Monatsarchiv 29. April 2023

VonRA Moegelin

Fristlose Kündigung wegen wildem Streik

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Die Teilnahme eines Arbeitnehmers an einem „wilden Streik“, also an einer nicht gewerkschaftlich organisierte Protestaktion, rechtfertigt eine fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Volltext der Pressemitteilung Nr. 12/23 vom 28.04.2023 des Landesarbeitsgerichts Berlin zu den Urteilen vom 25.04.2023 (16 Sa 868/22, 16 Sa 869/22 und 16 Sa 871/22):

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat in zwei Verfahren entschieden, dass die durch den Lieferdienst Gorillas erklärten fristlosen Kündigungen gegenüber als Fahrradkurieren (sog. Rider) beschäftigten Arbeitnehmern wirksam waren. Beide Rider hatten sich im Oktober 2021 an einem „wilden“ Streik beteiligt und in diesem Zusammenhang fristlose Kündigungen erhalten. In einem weiteren Verfahren ist die fristlose Kündigung der Gorillas nicht bestätigt worden, weil die Teilnahme des Arbeitnehmers an dem „wilden“ Streik nicht feststand.

Bei dem Lieferdienst Gorillas hatten sich Anfang Oktober 2021 eine Vielzahl von als Rider beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu Protesten vor einzelnen Filialen des Lieferdienstes versammelt, den Zugang zu den Filialen blockiert und Lieferfahrräder auf den Kopf gestellt. Der Lieferdienst hatte daraufhin fristlose Kündigungen gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgesprochen, die nach seiner Einschätzung an der als „wilder“ Streik bezeichneten Aktion beteiligt waren. Drei dieser fristlosen Kündigungen waren Gegenstand der verhandelten Verfahren.

Das Landesarbeitsgericht hat die Beteiligung an den „wilden“ Streiks als erhebliche arbeitsrechtliche Pflichtverletzungen bewertet und ist davon ausgegangen, dass die nicht gewerkschaftlich organisierte Protestaktion nicht als zulässige Ausübung des Streikrechts gemäß Artikel 9 Absatz 3 Satz 1 Grundgesetz zu beurteilen sei, dies auch nicht unter Berücksichtigung von Teil II Artikel 6 Nr. 4 der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC). In den beiden Verfahren, in denen die Beteiligung der Rider an der Protestaktion feststand, wurden die außerordentlichen Kündigungen bestätigt. In einem weiteren Verfahren konnte die aktive Beteiligung des Arbeitnehmers an der Protestaktion vom Gericht nicht festgestellt werden. In diesem Verfahren hat die außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht beendet, die ebenfalls ausgesprochene ordentliche Kündigung des erst kurz bestehenden Arbeitsverhältnisses wurde jedoch bestätigt.

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht in allen drei Verfahren nicht zugelassen.

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteile vom 25.04.2023 (16 Sa 868/22, 16 Sa 869/22 und 16 Sa 871/22).

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VonRA Moegelin

Unerreichbarkeit des Arbeitnehmers in der Freizeit

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Der Arbeitgeber verlangt vom Arbeitnehmer eine Arbeitsleistung, wenn er von diesem erwartet, eine dienstliche SMS zu lesen oder sich über Zeit und Ort seiner Arbeitsaufnahme im Internet zu informieren. Denn damit handelt der Arbeitnehmer ausschließlich zur Befriedigung eines fremden Bedürfnisses, nämlich des Bedürfnisses des Arbeitnehmers, die ordnungsgemäßen Organisation der Arbeitsabläufe durch eine sachgemäße Personalplanung zu gewährleisten.
In seiner Freizeit steht dem Arbeitnehmer das Recht auf Unerreichbarkeit zu. Ob der Arbeitnehmer einer Weisung, die ihm in seiner Freizeit zur Kenntnis gelangt ist,wie hier per SMS, ist daher irrelevant.

Volltext des Urteils des LAG Schleswig-Holstein vom 27.09.2022 Р1 Sa 39 ̦D/22:

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 27.01.2022 – 5 Ca 1023 a/21 – teilweise geändert und die Beklagte verurteilt,

– dem Kläger auf seinem Arbeitszeitkonto, Unterkonto 2 für den 08.04.2021 elf Arbeitsstunden gutzuschreiben

– dem Kläger auf seinem Arbeitszeitkonto, Unterkonto 1 für den 15.09.2021 0,75 Arbeitsstunden gutzuschreiben

– die Abmahnung vom 30.09.2021 aus der Personalakte des Klägers zu entfernen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits (beide Instanzen).

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 

Die Parteien streiten über den Stand des Arbeitszeitkontos des Klägers sowie die Entfernung einer Abmahnung.

Die Beklagte führt in fünf Kreisen in S.-H. den Rettungsdienst durch. Der Kläger ist seit dem 01.01.2003 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgänger als Notfallsanitäter in Vollzeit tätig. Aufgrund einer Verweisung in seinem schriftlichen Arbeitsvertrag (Anlage K 1) findet auf das Arbeitsverhältnis der TVöD-VkA Anwendung. Die wöchentliche Arbeitszeit des Klägers beträgt im Hinblick auf die Bereitschaftsdienstzeiten 48 Stunden. Die Stammwache des Klägers befindet sich in B. .

Für den Betrieb ist die Betriebsvereinbarung „Arbeitszeitgrundsätze in der RKISH – Teil: Einsatzdienst“ (BVA) geschlossen, die auch für Notfallsanitäter gilt (Abschnitt 1, lit. b). In § 2 d BVA ist die Erstellung des Rahmendienstplans geregelt, aus dem sich die Schichtarten, Schichtlängen und die sich daraus ergebende Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit ergibt. Aus dem Rahmendienstplan wird ein Soll-Dienstplan und daraus der Ist-Dienstplan entwickelt (§§ 2 f, 2 g BVA). § 3 a BVA regelt die Anlegung eines Arbeitszeitkontos mit zwei Unterkonten für jeden Mitarbeiter, auf denen die geleisteten und gewerteten Arbeitszeiten der Mitarbeiter erfasst werden. Abschnitt 4 regelt unter der Ãœberschrift Ist-Dienstplanung (Konkretisierung/Änderungen im DP):

„Zur Umsetzung von Dienstplänen sind Springerdienste und Rufbereitschaften zur Kompensation von Ausfallzeiten des Einsatzdienstes notwendig. Ferner werden auf Wunsch von Mitarbeitern Änderungen/Aktualisierungen des DP notwendig. Die folgende Vereinbarung dient der Gleichbehandlung aller Mitarbeiter in der Verteilung der oben genannten Dienste und Möglichkeiten.

§ 4a Aktualisierungen des Dienstplans

(1)

Aus dringenden betrieblichen Gründen können schichtgleiche Änderungen im Dienstplan vorgenommen werden. Der Dienstort kann im Rahmen der tariflichen Abordnungsregelung des Ergänzungstarifvertrags hierbei ebenfalls angepasst werden….

(3)

Diese Aktualisierungen müssen dem Betriebsrat spätestens bis zum 15ten des Vor-Vormonats (z.B. bis 15.01. Vorlage für den DP März) vorgelegt werden. Dieser hat die Änderungen bis zum jeweils Ersten des Vormonats zu genehmigen. Dringende betriebliche Gründe sind: …

(4)

Spätere Änderungen sind für den Mitarbeiter immer freiwillig …

§ 4 f Springerdienste

(1)

Springerdienste dienen der Kompensation aller an diesem Tag möglichen Dienstformen und werden in der Jahresplanung einem Wochentag der Vertreterwoche verbindlich zugewiesen…

(4)

Um die Planungssicherheit der Mitarbeiter zu steigern, hat die konkrete Schichtzuteilung in verblockten Springerdiensten Vorrang vor Zuweisung von einzelnen Springerdiensten. Die konkrete Schichtzuteilung in verblockten Springerdiensten ist spätestens im Rahmen der Dienstplanaktualisierung (vgl. § 4a) am 15ten des Vor-Vormonats (z.B. bis 15.1. Vorlage für den DP März) erfolgt. Andernfalls erfolgt zu diesem Zeitpunkt die Zuteilung von unkonkreten Tag-, Spät- und Nachtdiensten.

(6)

Einzelne Springerdienste werden (bezogen auf Dienstbeginn 7 Uhr) spätestens 4 Tage (…) vorher durch konkrete Schichtzuteilung verbindlich. Sollte zu diesem Zeitpunkt keine konkrete Schichtzuteilung möglich sein, erfolgt die Zuteilung von unkonkreten Tag-, Spät- und Nachtdiensten…

(7)

In unkonkret zugeteilten Springerdiensten als Tag-, Spät- und Nachtdienst können nach der Zuteilung weitere Konkretisierungen vorgenommen werden. Hierfür sind folgende Zeitkorridore verbindlich:

– Tagdienst spätester Beginn 06-09 Uhr spätestes Ende 21 Uhr- Spätdienst spätester Beginn 09-15 Uhr spätestes Ende 23 Uhr- Nachtdienst spätester Beginn 18-21 Uhr spätestes Ende 07 Uhr

(8)

Unkonkret zugeteilte Springerdienste können für Tag- und Spätdienste bis 20 Uhr des Vortags vor Dienstbeginn im Dienstplan weiter konkretisiert werden. Für Nachtdienste gilt diese Regelung bis 16 Uhr am Vertretungstag. Geschieht dies nicht, findet sich der Mitarbeiter zu Dienstbeginn am vom Arbeitgeber zugewiesenen Dienstort ein…“

§ 4 g BVA trifft Regelungen zur Anordnung von Rufbereitschaft, in § 6 a BVA sind Beginn und Ende der Arbeitszeit festgelegt. Wegen der weiteren Einzelheiten der BVA wird auf die Anlage K2 Bezug genommen.

Die Mitarbeiter der Beklagten können über das Internet den aktuellen Ist-Dienstplan einsehen. An den im Folgenden in Rede stehenden Tagen (08.04. und 15.09.2021) mussten sich wegen der Corona-Pandemie die Mitarbeiter im unkonkreten Springerdienst in den Fällen, in denen keine weitere Konkretisierung des Dienstes erfolgte, entgegen § 4 f Abs. 8 S. 3 BVA zu Dienstbeginn nicht am zugewiesenen Dienstort einfinden, sondern telefonisch um 7.30 Uhr von zuhause aus ihre Einsatzfähigkeit mitteilen.

Am 06.04.2021 endete der Dienst des Klägers um 19.00 Uhr. Zu jenem Zeitpunkt war seit dem 04.04.21 um 8.22 Uhr für den 08.04.2021, den nächsten Arbeitstag des Klägers, im Ist-Dienstplan ein unkonkreter Springerdienst (§ 4 f Abs. 4 S. 3 BVA) eingetragen. Am 07.04.2021 um 13.20 Uhr teilte die Beklagte dem Kläger für den 08.04.2021 einen Dienst in der Tagschicht in der Rettungswache P. mit Dienstbeginn um 6.00 Uhr zu und trug dies in den Ist-Dienstplan ein. Versuche, den Kläger telefonisch zu erreichen, schlugen fehl. Die Beklagte übersandte dem Kläger um 13.27 Uhr eine SMS, bezüglich deren Inhalt auf die Anlage B 1 verwiesen wird. Am 08.04.2021 zeigte der Kläger um 7.30 Uhr telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsleistung an. Er wurde von der Beklagten, die zwischenzeitlich einen Mitarbeiter aus der Rufbereitschaft herangezogen hatte, nicht weiter eingesetzt. Die Beklagte erteilte dem Kläger eine Ermahnung, bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und zog dem Kläger elf Stunden von dem Unterkonto 2 seines Arbeitszeitkontos ab.

Für den 15.09.2021 war für den Kläger im Ist-Dienstplan zunächst ein Dienst als „Springer kurzfristig“ eingetragen, den die Beklagte am 10.09.2021 auf den „Tagdienst“ einschränkte. Am 14.09.2021 hatte der Kläger frei. Um 9.15 Uhr an diesem Tag konkretisierte die Beklagte den Dienst auf eine um 6.30 Uhr aufzunehmende Tätigkeit in P.. Auch diesmal war der Kläger telefonisch nicht zu erreichen. Die Beklagte schickte ihm erneut eine SMS (Anlage B 1) und diesmal auch eine E-Mail. Am 15.09.2021 zeigte der Kläger um 7.30 Uhr telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme gegenüber dem Arbeitszeitgestalter der Beklagten Z. an. Dieser forderte ihn zur Arbeitsaufnahme in P. auf. Tatsächlich nahm der Kläger seinen Dienst um 8.26 Uhr in P. auf. Die Beklagte wertete die Zeit von 6.30 Uhr bis 8.26 Uhr als unentschuldigtes Fehlen, erteilte dem Kläger mit Schreiben vom 30.0.2021 eine Abmahnung wegen dieses Sachverhalts und zog ihm 1,93 Stunden vom Unterkonto 1 seines Arbeitszeitkontos ab.

Mit seiner Klage wehrt sich der Kläger gegen den Abzug von Stunden von seinen Arbeitszeitkonten und begehrt die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte.

Hierzu hat er im Wesentlichen vorgetragen: Die Konkretisierung der Dienste sei erst nach Ablauf der Frist aus § 4 a Abs. 4 BVA erfolgt und müsse nicht von ihm befolgt werden. Aus den §§ 4 a und 4 f BVA ergebe sich, dass ein mit einem Wachenwechsel verbundener Springerdienst nach Ablauf der Frist zur Konkretisierung stets freiwillig sei. Das ergebe sich auch aus der zur BVA herausgegebenen Kommentierung. Die Konkretisierung des Springerdienstes selbst sei in der BVA nicht geregelt und unterliege der Mitbestimmung des Betriebsrats, die nicht erfolgt sei. Er sei nicht verpflichtet, sich während seiner Freizeit darüber zu informieren, wann er zu arbeiten habe. Die Beklagte stelle auch – unstreitig – die entsprechenden technischen Möglichkeiten wie ein Diensthandy oder einen PC nicht zur Verfügung. Sie umgehe mit ihrer Vorgehensweise die Anordnung von Rufbereitschaft, um Kosten zu sparen. Die kurzfristige Anordnung verstoße auch gegen § 12 Abs. 3 TzBfG, zumindest aber gegen billiges Ermessen. Sein Handy habe er lautlos gestellt, weil er sich um seine Kinder habe kümmern müssen. Da er sich rechtmäßig verhalten habe, sei auch die Abmahnung unwirksam und aus der Personalakte zu entfernen. Die von der Beklagten vorgelegten SMS belegten nicht, dass diese angekommen oder gelesen worden seien.

Die Beklagte hat erwidert: Ihr Vorgehen stehe im Einklang mit der BVA. Der Kläger sei verpflichtet, sich über seine Dienstzeiten zu informieren. Die Zeiten, in denen er sich informiere, seien auch nicht als Arbeitszeit zu bewerten. Die Informationspflicht bestehe als arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Der Kläger habe das Telefon nicht abgenommen und auf die SMS und am 14.09.2021 auch auf die E-Mail nicht reagiert. Er habe daher unentschuldigt gefehlt.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands in erster Instanz und der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung verwiesen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe die Arbeitszeitzuweisungen entsprechend den Regelungen der BVA vorgenommen, insbesondere liege kein Verstoß gegen § 4 a BVA vor. Auch gegen die in § 12 TzBfG geregelten Grundsätze der Abrufarbeit sei nicht verstoßen worden. Der Kläger könne sich auch nicht darauf berufen, von der Dienstplanänderung keine Kenntnis gehabt zu haben. Er sei aufgrund einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht verpflichtet, sich nach dem Beginn seines Dienstes zu erkundigen. Die Fehlzeiten des Klägers seien daher von seinem Arbeitszeitkonto in Abzug zu bringen. Die Abmahnung sei zurecht erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Gegen das am 09.03.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16.03.2022 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Frist zur Berufungsbegründung bis zum 09.06.2022 am 08.06.2022 begründet.

Er vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen wie folgt: Für den 15.09.2021 werde im Berufungsrechtszug noch eine Gutschrift von 45 min verlangt. Hinsichtlich der Gutschrift weiterer Zeiten, die erstinstanzlich für den 15.09.2021 geltend gemacht worden sind, hat er die zunächst unbeschränkt eingelegte Berufung zurückgenommen.

Das Arbeitsgericht habe die BVA falsch angewandt. Die Beklagte habe den Ausfall, der zu seinem Einsatz am 08.04. geführt habe, selbst verursacht. Gleiches gelte für den Ausfall am 15.09.21. Über die Änderung an diesem Tag habe ihn die Beklagte auch schon am 13.9.2021 während der Arbeitszeit informieren können. Die Beklagte trage selbst vor, dass sie die unkonkreten Springerdienste für kurzfristige krankheitsbedingte Ausfälle nutze. Dies stehe im Widerspruch zu § 4 f Abs. 1 BVA. Die Beklagte müsse für Fälle kurzfristiger Krankheit eines Mitarbeiters Rufbereitschaft nach § 4 g BVA anordnen. Ferner verkenne das Arbeitsgericht den Inhalt von § 4 a Abs. 4 BVA. Die Zuteilung einer anderen als der Stammwache sei keine Konkretisierung im Sinne des § 4 f Abs. 8 BVA, sondern eine Änderung der Schicht im Sinne von § 4 f Abs. 6 BVA. Diese sei ausweislich der hierzu vorliegenden Kommentierung aber nur freiwillig möglich. Diese Freiwilligkeit liege bei ihm unstreitig nicht vor.

Die Vorgehensweise der Beklagten verstoße auch gegen § 12 Abs. 3 TzBfG. Faktisch leiste er Arbeit auf Abruf, sodass die Beklagte stets eine Ankündigungsfrist von vier Tagen einhalten müsse.

Das Arbeitsgericht setze sich auch nicht mit seinem Recht auf Nichterreichbarkeit in der Freizeit auseinander. Soweit dieses auf andere Pflichten außerhalb der Arbeitszeit, etwa die Pflicht zur Anzeige der Arbeitsunfähigkeit hinweise, seien diese nicht mit der Verpflichtung, sich über seine Dienstzeiten zu informieren, vergleichbar. Die kurzfristige Veränderung der Arbeitszeit liege im alleinigen Interesse der Beklagten. Außerdem gebe es – unstreitig – keine Vereinbarung darüber, dass er seine eigenen Geräte (Handy, PC) für die Beklagte einsetzen müsse. Er habe die SMS nicht gelesen oder zur Kenntnis genommen. Eine SMS von einer unbekannten Nummer sortiere sein Handy aus und verschiebe sie in einen separaten Ordner. Diesen lösche er in unregelmäßigen Abständen. Er vermute, dass dies auch mit den SMS der Beklagten geschehen sei. Die Anordnung der Beklagten zur Arbeitsleistung wahre auch keine angemessene Ankündigungsfrist. Sie sei schließlich auch wegen des Verstoßes gegen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 6 BetrVG unwirksam.

Am 15.9.2021 habe er für das Telefonat mit Herrn Z. und die anschließende Fahrt zur Wache jedenfalls 45 Minuten aufwenden müssen. Auf die Gutschrift für diesen Zeitraum beschränke er seinen Antrag.

Da er seine Arbeitspflichten nicht verletzt habe, sei auch die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 27.01.2022 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen,

1. ihm für den 08.04.2021 elf Arbeitsstunden auf seinem Arbeitszeitkonto, Unterkonto 2 gutzuschreiben,

2. die Abmahnung vom 30.09.2021 aus seiner Personalakte zu entfernen

3. ihm für den 15.09.2021 0,75 Arbeitsstunden auf seinem Arbeitszeitkonto, Unterkonto 1 gutzuschreiben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert: Die Konkretisierung der Springerdienste an den beiden Tagen sei von ihrem Direktionsrecht gedeckt. Dem Kläger stehe es frei, wann und wie er sich die Informationen über seine konkrete Arbeitszeit verschaffe. Sie bestreite mit Nichtwissen, dass er nicht eine der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten genutzt habe. Am 08.04.2021 sei, nachdem der Kläger nicht erschienen sei, die Mitarbeiterin Si. aus der Rufbereitschaft aktiviert worden, um für den Kläger auf dem Rettungswagen eingesetzt zu werden. Da der Rettungswagen damit ordnungsgemäß besetzt war, sei der Kläger an jenem Tag nicht mehr benötigt worden. Der Dienst am 08.04. habe dem Kläger auch nicht früher zugewiesen werden können. Ursächlich für die Zuweisung sei die erst am 07.04. angezeigte Erkrankung des Mitarbeiters B..

Sie habe auch keine Rufbereitschaft angeordnet, weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen davon ausgegangen sei, dass der Kläger benötigt werde. Da regelmäßig ein bestimmter Anfall von Mitarbeitern ausfalle, plane sie mit einem Vertreterdienst. Die Auslegung des Klägers zu § 4 f BVA teile sie nicht. Der Kläger arbeite in einem Vollzeitarbeitsverhältnis, sodass § 12 Abs. 3 TzBfG nicht anwendbar sei. Zutreffend habe das Arbeitsgericht festgestellt, dass kein Abrufarbeitsverhältnis vereinbart sei. Sie spreche dem Kläger das Recht auf Unerreichbarkeit nicht ab. Der Blick in das Dienstplanprogramm sei keine Arbeit. Nahezu alle Mitarbeiter empfänden es als positiv, wenn sie über die Konkretisierung von Arbeitszeit und -ort telefonisch informiert würden. Der Kläger müsse wegen seiner Loyalitätspflicht auch sein Telefon benutzen, um sich über die Arbeitszeiten zu informieren. Die Konkretisierung der Arbeitsleistung sei von der BVA gedeckt und daher auch mit Zustimmung des Betriebsrats erfolgt.

Dass der Kläger am 15.09. vom Beginn des Telefonats bis zur Arbeitsaufnahme jedenfalls 45 Minuten benötigt habe, werde von ihr nicht bestritten.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Akte verwiesen.

Gründe

 

Die gemäß § 64 Abs. 2 lit. b ArbGG statthafte, form- und fristgemäß eingelegte und damit zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Die zulässige Klage des Klägers ist, soweit sie dem Berufungsgericht zur Entscheidung angefallen ist, mit allen Anträgen begründet.

A.

Die Klage ist zulässig. Die Anträge zu 1. und 3. sind hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

I. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist ein Antrag, einem Arbeitszeitkonto Stunden „gutzuschreiben“, hinreichend bestimmt im Sinne von § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer ein Zeitkonto führt, auf dem zu erfassende Arbeitszeiten nicht aufgenommen wurden und noch gutgeschrieben werden können. Erforderlich ist dafür eine Konkretisierung des Leistungsbegehrens, an welcher Stelle des Arbeitszeitkontos die Gutschrift erfolgen soll (z.B. BAG vom 21.03.2012 – 5 AZR 676/11 – Juris, Rn. 16).

II. Danach sind die Anträge zu 1. und 3. hinreichend bestimmt. Der Kläger hat im Berufungstermin klargestellt, auf welchem der beiden für ihn geführten Unterkonten die jeweiligen Zeitgutschriften erfolgen sollen. Die Beklagte hat erklärt, dass entsprechende Gutschriften auch jetzt noch erfolgen könnten. Wie die Gutschrift genau zu erfolgen hat, steht zwischen den Parteien nicht im Streit und bedurfte daher keiner weiteren Konkretisierung.

B.

Die Klage ist mit allen Anträgen begründet.

I. Der Antrag zu 1. ist begründet. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Gutschrift für 11 Stunden auf dem Unterkonto 2 seines Arbeitszeitkontos für den 08.04.2021 zu. Der entsprechende Anspruch beruht auf den §§ 611 a Abs. 2, 615 Satz 1 BGB.

1. Aus § 611 Abs. 1 BGB (jetzt 611 a Abs. 2 BGB) kann der Arbeitnehmer einen Anspruch auf korrekte Führung des Arbeitszeitkontos haben, wenn dieses nach der zugrundeliegenden Abrede der Vertragsparteien den Vergütungsanspruch verbindlich bestimmt. Ein Arbeitszeitkonto gibt den Umfang der vom Arbeitnehmer geleisteten Arbeit wieder und drückt damit nur in anderer Form seinen Vergütungsanspruch aus. Die Gutschrift von Arbeitsstunden setzt damit voraus, dass die gutzuschreibenden Stunden nicht vergütet wurden oder die dafür geleistete Vergütung vom Arbeitgeber wegen eines Entgeltfortzahlungstatbestands auch ohne tatsächliche Arbeitsleistung hätte erbracht werden müssen (BAG vom 11.10.2010 – 5 AZR 766/09 – Juris, Rn. 16).

2. Der Vergütungsanspruch des Klägers wird durch die von ihm geleisteten, im Arbeitszeitkonto ausgewiesenen Stunden verbindlich bestimmt. Das legt die BVA fest. Auf diesem Konto sind dem Kläger für den 08.04.2021 11 Stunden gutzuschreiben, obwohl der Kläger an diesem Tag nicht gearbeitet hat. Es liegen nämlich die Voraussetzungen eines Entgeltfortzahlungstatbestands, hier § 615 Satz 1 BGB, vor. Die Beklagte befand sich am 08.04.2021 mit der Annahme der Dienste des Klägers in Verzug.

a) Annahmeverzug setzt das Angebot der vom Arbeitgeber durch sein Direktionsrecht (§ 106 GewO) konkretisierten Arbeitsleistung voraus. Die Arbeitsleistung ist vom Arbeitnehmer gemäß § 294 BGB in eigener Person zur rechten Zeit am rechten Ort und in rechter Weise anzubieten (Schaub/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, 19. Aufl. 2021, § 95 Rn. 26).

b) Danach befand sich die Beklagte am 08.04.2021 mit der Annahme der Dienste des Klägers in Verzug. Der Kläger hat an jenem Tag um 07:30 Uhr seine Arbeitsleistung telefonisch bei dem zuständigen Arbeitszeitgestalter der Beklagten angeboten. Mit diesem Angebot hat der Kläger die von ihm geschuldete Arbeitsleistung zur rechten Zeit am rechten Ort erbracht. Dem Kläger war für den 08.04.2021 ein unkonkreter Springerdienst im Sinne des § 4 f Abs. 8 BVA zugewiesen worden. In diesen Fällen war für das ordnungsgemäße Angebot an jenem Tag ein telefonisches Angebot bei dem Arbeitszeitgestalter erforderlich, aber auch ausreichend. Ein persönliches Aufsuchen der Stammdienststelle war nicht (mehr) vorgeschrieben. Die anderslautende Regelung in § 4 f Abs. 8 Satz 3 BVA, nach der im Falle eines nicht näher konkreten Springerdienstes ein Einfinden am Dienstort geschuldet war, war – unstreitig – wegen der Coronapandemie abgeändert worden.

c) Dem Kläger war für den 08.04.2021 auch ein unkonkreter Springerdienst zugewiesen. Die Beklagte hat diesen Springerdienst nicht durch Ausübung ihres Direktionsrechts von einem unkonkreten auf einen konkreten Springerdienst nach § 4 f Abs. 8 Satz 1 BVA konkretisiert, insbesondere nicht durch die Zuteilung eines konkreten Springerdienstes am 07.04.2021 um 13:20 Uhr. Die entsprechende Dienstplanänderung ist dem Kläger nicht zugegangen und ist ihm gegenüber deswegen auch nicht wirksam geworden.

aa) Das Weisungs- bzw. Direktionsrecht nach § 106 GewO ist als Leistungsbestimmungsrecht im Sinne des § 315 BGB ein Gestaltungsrecht. Es wird demzufolge durch Gestaltungserklärung ausgeübt. Bei dieser handelt es sich um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung (BAG vom 16.04.2015 – 6 AZR 242/14 – Juris, Rn. 24).

bb) Eine empfangsbedürftige Willenserklärung wird gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB mit ihrem Zugang wirksam. Zugegangen ist eine Willenserklärung, wenn sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Zum Bereich des Empfängers gehören auch die von ihm zur Entgegennahme von Erklärungen bereitgehaltenen Einrichtungen, wie Briefkasten, Postfach, E-Mail-Postfach oder Anrufbeantworter. Vollendet ist der Zugang erst, wenn die Kenntnisnahme durch den Empfänger möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten ist (Grüneberg, 81. Auflage 2022, § 130, Rn. 5).

cc) Die Beklagte hat nicht nachweisen können, dass dem Kläger die Mitteilung über die Änderung des Dienstplans zugegangen ist.

Den Vortrag des Klägers, er habe sich den Dienstplan im Internet nicht angeschaut, hat die Beklagte nicht widerlegt. Ihr bloßes Bestreiten mit Nichtwissen, dass dem Kläger die Dienstplanänderung nicht bekannt gewesen sei, reicht nicht aus, da die Beklagte für den Zugang ihrer Direktionsrechtsausübung als einer für sie günstige Tatsache darlegungs- und beweisbelastet ist.

Den Telefonanruf des Arbeitszeitgestalters, in dem dieser dem Kläger die Änderung des Dienstplans mitteilen wollte, hat der Kläger unstreitig nicht entgegengenommen, so dass die Information über die Dienstplanänderung auf diesem Weg nicht in seinen Empfangsbereich gelangt ist.

Allerdings ist die dem Kläger übersandte SMS in den Empfangsbereich des Klägers gelangt. Das Gericht geht nach den Erörterungen im Berufungstermin davon aus, dass die SMS auf dem Handy des Klägers eingegangen ist. Anderenfalls wäre bei der Beklagten ein entsprechender Hinweis auf die fehlende Zustellbarkeit der SMS eingegangen. Der Kläger hat insoweit auch eingeräumt, dass bestimmte SMS bei ihm von vornherein in einen Ordner sortiert werden, dessen Inhalt er dann gelegentlich löscht und eingeräumt, dass dies möglicherweise auch bei der hier in Rede stehenden SMS des Arbeitszeitgestalters vom 07.04.2021 der Fall war.

Mit der Kenntnisnahme des Inhalts der SMS durfte die Beklagte jedoch nicht vor 7:30 Uhr des folgenden Tages rechnen. Die Beklagte konnte unter normalen Umständen nicht davon ausgehen, dass der Kläger diese SMS vor 07:30 Uhr am 08.04.2021 zur Kenntnis nahm. Vorher war eine Kenntnisnahme durch den Kläger nicht zu erwarten. Der Kläger ist nicht verpflichtet, während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen.

(1) Beim Lesen einer SMS, mit der der Arbeitgeber sein Direktionsrecht im Hinblick auf Zeit und Ort der Arbeitsausübung konkretisiert, handelt es sich um Arbeitszeit. Der Kläger erbringt mit dem Lesen eine Arbeitsleistung.

(a) Zur im Dienste eines Anderen erbrachten Arbeitsleistung im Sinne von § 611 a Abs. 1 BGB zählt nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede im Synallagma vom Arbeitgeber verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Der Arbeitgeber verspricht die Vergütung aller Dienste, die er dem Arbeitnehmer aufgrund seines arbeitsvertraglich vermittelten Weisungsrechts abverlangt. „Arbeit“ im Sinne dieser Bestimmungen ist jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient (BAG vom 18.03.2020 – 5 AZR 36/19 – Juris, Rn. 15 mit Hinweisen zur ständigen Rechtsprechung).

(b) Danach verlangt die Beklagte vom Kläger eine Arbeitsleistung, wenn sie von diesem erwartet, eine dienstliche SMS zu lesen oder sich über Zeit und Ort seiner Arbeitsaufnahme im Internet zu informieren. Denn damit handelt der Kläger ausschließlich zur Befriedigung eines fremden Bedürfnisses, nämlich des Bedürfnisses der Beklagten, die ordnungsgemäßen Organisation ihrer Arbeitsabläufe durch eine sachgemäße Personalplanung zu gewährleisten. Dabei setzt die Arbeitsleistung des Klägers in dem Moment ein, indem er eigene Bemühungen anstellen muss (Aufrufen der SMS und Lesen des Inhalts/Einblick in den Dienstplan im Internet). Dagegen ist die bloße Entgegennahme eines Telefonats oder einer mündlichen Weisung zwar möglicherweise ein Verstoß der Beklagten gegen das Recht des Klägers „auf Unerreichbarkeit“ (hierzu: Bayreuther, Mehr Flexibilität hinsichtlich des Arbeitsumfangs?, NZA-Beilage 2018, 103, 107 m.w.N.), ändert aber am Zugang der Weisung nichts.

In seiner Freizeit steht dem Kläger dieses Recht auf Unerreichbarkeit zu. Freizeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer/innen in diesem Zeitraum den Arbeitgeber/innen nicht zur Verfügung stehen müssen und selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo sie diese Freizeit verbringen. In dieser Zeit müssen sie gerade nicht fremdnützig tätig sein und sind nicht Bestandteil einer fremdbestimmten arbeitsrechtlichen Organisationseinheit und fungieren nicht als Arbeitskraft. Es gehört zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in dieser Zeit erreichbar sein will oder nicht (LAG Thüringen, Urteil vom 16.05.2018 – 6 Sa 442/17 – Juris, Rn. 43). Ob der Kläger einer Weisung, die ihm in seiner Freizeit zur Kenntnis gelangt ist, folgen müsste, braucht hier nicht entschieden zu werden.

(c) Der Einschätzung, dass das Lesen der SMS zur Arbeitszeit des Klägers zu rechnen ist, steht der zeitlich minimale Aufwand, der mit dem Aufrufen und Lesen einer SMS verbunden ist, nicht entgegen. Arbeit wird nicht deswegen zur Freizeit, weil sie nur in zeitlich ganz geringfügigem Umfang anfällt. Das Recht auf Nichterreichbarkeit dient neben der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes des Arbeitnehmers durch Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten (§ 5 Abs. 1 ArbZG) auch dem Persönlichkeitsschutz (LAG Thüringen, aaO.). Es ist also auch dann zu beachten, wenn – wie hier – die Ruhezeit nach § 5 Abs. 1 Arbeitszeitgesetz durch die Arbeitsaufnahme nicht unterbrochen wird, weil diese zum Zeitpunkt der Dienstplanänderung bereits abgelaufen war (zum Meinungsstand hierzu: Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeitszeitgesetz, 4. Auflage 2020, § 5 Rn. 14/14 a).

(2) Die Beklagte durfte und musste nach der Verkehrsanschauung damit rechnen, dass der Kläger die ihm übersandte SMS erst mit Beginn seines Dienstes um 07:30 Uhr zur Kenntnis nahm. Zu diesem Zeitpunkt ist der Kläger verpflichtet, seiner Arbeit nachzugehen und dazu gehört auch die in seiner Freizeit bei ihm eingegangenen dienstlichen Nachrichten des Arbeitgebers zur Kenntnis zu nehmen.

dd) Der Kläger hat sich auch nicht treuwidrig verhalten, indem er auf die Telefonate nicht reagiert, die SMS nicht zur Kenntnis genommen und auch nicht in den Dienstplan im Internet Einsicht genommen hat, um sich über seinen Dienstbeginn zu informieren.

(1) Verhindert ein Empfänger durch eigenes Verhalten den Zugang einer Willenserklärung, muss er sich so behandeln lassen, als sei ihm die Erklärung bereits zum Zeitpunkt des Ãœbermittlungsversuchs zugegangen (treuwidrige Zugangsvereitelung). Nach Treu und Glauben ist es ihm verwehrt, sich auf den späteren tatsächlichen Zugang zu berufen, wenn er selbst für die Verspätung die alleinige Ursache gesetzt hat. Sein Verhalten muss sich dafür als Verstoß gegen bestehende Pflichten zur Sorgfalt oder Rücksichtnahme darstellen. Lehnt er etwa grundlos die Entgegennahme eines Schreibens ab, muss er sich nach § 242 BGB jedenfalls dann so behandeln lassen, als sei es ihm im Zeitpunkt der Ablehnung zugegangen, wenn er im Rahmen vertraglicher Beziehungen mit der Abgabe rechtserheblicher Erklärungen durch den Absender rechnen musste (KR-Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzrecht, 13. Auflage 2022 – § 4 KSchG, Rn. 170 zur Zugangsvereitelung bei Kündigungserklärungen).

(2) Der Kläger verhält sich nicht treuwidrig, wenn er darauf besteht, in seiner Freizeit keiner dienstlichen Tätigkeit nachzugehen. Er lehnt im Sinne der oben dargestellten Rechtslage die Entgegennahme der Weisung durch die Beklagte nicht grundlos ab. Vielmehr verhält sich die Beklagte widersprüchlich, wenn sie einerseits dem Kläger Freizeit gewährt und andererseits von ihm verlangt, Arbeitsleistungen zu erbringen. Die von der Beklagten angenommene Nebenpflicht, sich in seiner Freizeit nach seinen Dienstzeiten zu erkundigen, besteht nicht.

d) Zum Zugangszeitpunkt um 07:30 Uhr war die Weisung an den Kläger, seinen Dienst um 06:00 Uhr in P. anzutreten, zeitlich bereits überholt. Sie ist dann von der Beklagten auf Nachfrage auch nicht aufrechterhalten worden. Eine andere Arbeitsleistung ist ihm für jenen Tag nicht zugewiesen worden. Damit befand sich die Beklagte mit der Annahme der Dienste des Klägers auch nach 7:30 Uhr in Verzug.

e) Der Umfang der Gutschrift für jenen Tag, nämlich 11 Stunden, ist zwischen den Parteien unstreitig.

II. Der Antrag zu 3. ist ebenfalls begründet. Dem Kläger steht auch für den 15.09.2021 die nunmehr noch geltend gemachte Gutschrift für 0,75 Stunden zu. Der Anspruch folgt allerdings nicht aus den §§ 611 a Abs. 2, 615 Satz 1 BGB, sondern vielmehr als Schadensersatzanspruch aus den §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB.

1. Die Beklagte befand sich am 15.09.2021 ab 07:30 Uhr nicht mit der Annahme der Dienste des Klägers in Verzug.

a) Der Kläger hat an diesem Tag um 07:30 Uhr seine Arbeitsleistung entsprechend § 4 f Abs. 8 Satz 3 BVA angeboten. Bis zum Zeitpunkt des Telefonats war der dem Kläger zugeteilte unkonkrete Springerdienst durch die Beklagte nicht weiter konkretisiert worden.

Die Beklagte hatte zwar am 14.09.2021 den Dienstplan des Klägers geändert und ihm einen konkreten Springerdienst zugewiesen. Die Dienstplanänderung ist dem Kläger jedoch nicht vor 07:30 Uhr am 15.09.2021 zugegangen. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen Bezug genommen werden. Der Kläger hat erklärt, er habe sich nicht im Internet über die Dienstplanänderung informiert, die SMS sei bei ihm nicht eingegangen und die E-Mail habe er, so hat er im Berufungstermin ausgeführt, auch erst später gelesen. Damit ist von einem Zugang der Dienstplanänderung um 07:30 Uhr auszugehen.

b) Um 07:30 Uhr ist dem Kläger dann aber gesagt worden, er müsse nunmehr seinen Dienst „sofort“ in P. aufnehmen. Gegen diese Weisung und die darin liegende Mitteilung der Dienstplanänderung wendet sich der Kläger auch nicht. Er meint, ihm müsse die Fahrtzeit nach P. gutgeschrieben werden. Während der Fahrt nach P. befand sich die Beklagte aber nicht im Annahmeverzug. Die Fahrt zum Arbeitsplatz ist nicht Teil der vom Kläger geschuldeten Arbeitsleistung, so dass er in diesem Zeitraum die Beklagte auch nicht in Annahmeverzug versetzen kann.

Tatsächlich meint der Kläger, wie er dann auf Befragen im Berufungstermin ausgeführt hat, die Zeit für die Fahrt zum Arbeitsort P. am 15.09.2021 müsse ihm gutgeschrieben werden, weil ihn die Beklagte erst um 07:30 Uhr über die Änderung des Dienstortes informiert habe, sodass er seine Arbeitsleistung nicht pünktlich habe anbieten können. Damit macht der Kläger der Sache nach einen Verzugsschadensersatzanspruch geltend, nicht aber einen Anspruch aus Annahmeverzug.

2. Dieser Schadensersatzanspruch steht dem Kläger gemäß den §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB zu.

a) Wie gerade ausgeführt, hat der Kläger im Berufungstermin klargestellt, dass auch ein Schadensersatzanspruch wegen der verspäteten Mitteilung des Dienstes Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens sein soll. Soweit darin eine Klageänderung liegt, ist sie jedenfalls sachdienlich und damit zulässig. Im Übrigen hat die Beklagte hiergegen auch keine Einwendungen erhoben.

b) Die Beklagte hat eine Leistungspflicht aus dem Arbeitsverhältnis verzögert erfüllt im Sinne der §§ 280 Abs. 1, Abs. 2 BGB. Sie ist nach § 241 Abs. 2 BGB zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Klägers verpflichtet. Zu diesen Interessen gehört es, dass dem Kläger der Beginn seiner Dienstzeit so rechtzeitig mitgeteilt wird, dass er den Arbeitsort noch pünktlich aufsuchen kann, um dort seine Arbeitsleistung aufzunehmen und damit „sein Geld zu verdienen“. Diese Leistungspflicht verletzt die Beklagte, wenn sie ihm erst um 07:30 Uhr mitteilt, dass er nunmehr unverzüglich in P. seinen Dienst antreten muss.

c) Einer Mahnung der Beklagten im Sinne des § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB bedurfte es nicht. Diese ist nämlich nach § 286 Abs. 2 Satz 1 BGB hier entbehrlich, weil für den Zeitpunkt, an dem dem Kläger der Beginn seiner Arbeitszeit mitzuteilen ist, eine Zeit nach dem Kalender bestimmt ist, § 286 Abs. 2 Satz 1 BGB. Nach § 4 f Abs. 8 Satz 1 BVA ist die Beklagte verpflichtet, unkonkret zugeteilte Springerdienste im Tagdienst bis spätestens 20:00 Uhr des Vortags zu konkretisieren. Das hat die Beklagte hier nicht getan. Ihre entsprechenden Mitteilungen sind dem Kläger nicht zugegangen.

d) Die Verletzung dieser Leistungspflicht erfolgt auch schuldhaft im Sinne des § 286 Abs. 4 BGB. Der Arbeitszeitgestalter der Beklagten, dessen Verschulden der Beklagten gemäß § 278 Satz 1 BGB zuzurechnen ist, hat fahrlässig gehandelt. Er hat nicht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, § 276 Abs. 2 BGB, beachtet.

Der Beklagten war bekannt, dass der Kläger nicht bereit ist, in seiner Freizeit Informationen über seine Dienstplangestaltung entgegenzunehmen. Zum hier streitigen Zeitpunkt im September hatte der Kläger wegen dieses Sachverhalts bereits eine entsprechende Klage vor dem Arbeitsgericht erhoben. Die Beklagte hätte daher die Arbeitszeitkonkretisierung gegenüber dem Kläger früher vornehmen müssen, was ihr für den 15.09. auch möglich gewesen wäre, da der der Konkretisierung des Springerdienstes zugrundeliegende Ausfall eines anderen Mitarbeiters bei der Beklagten bereits am 12.09. um 20:14 Uhr erfolgte. Die Beklagte hätte daher jedenfalls am 13.09. noch den Dienstplan ändern können. Die entsprechende Mitteilung hätte der Kläger auch zur Kenntnis nehmen können, da er an diesem Tag noch Dienst hatte.

Im Übrigen hat die Beklagte zur Exkulpation auch nur vorgetragen, sie besetze die konkreten Springerdienste möglichst spät, um noch eine entsprechende Personalreserve vorhalten zu können. Damit übernimmt sie aber selbst das Risiko, einen Mitarbeiter nicht erreichen zu können.

e) Der wegen der verspäteten Mitteilung beim Kläger eingetretene Schaden ist der Verlust der Gutschrift für die objektiv für die Fahrt zur Dienststelle aufzuwendende Zeit. Die beträgt nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien im Berufungstermin jedenfalls die hier vom Kläger verlangten 45 Minuten, die demnach auf seinem Arbeitszeitkonto 1 gutzuschreiben sind.

III. Der Antrag zu 2. ist ebenfalls begründet. Die Beklagte muss die Abmahnung vom 30.09.2021 aus der Personalakte des Klägers entfernen. Diese verletzt das Persönlichkeitsrecht des Klägers und ist damit rechtswidrig.

1. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann ein Arbeitnehmer in entsprechender Anwendung der §§ 242, 1004 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus seinen Personalunterlagen verlangen, wenn die Abmahnung formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist, sie unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht, ausnahmsweise den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der Abmahnung in der Personalakte mehr besteht (Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 19. Auflage, § 132 Rn. 31).

2. Danach ist die Beklagte zur Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte des Klägers verpflichtet. Diese enthält eine unzutreffende rechtliche Bewertung des Verhaltens des Klägers.

Dem Kläger wird vorgeworfen, er verletze seine arbeitsvertraglichen Nebenpflichten, wenn er nicht von sich aus in den Dienstplan sehe und prüfe, wann und wo er für den eingeteilten Dienst am Folgetag zu erscheinen habe. Dabei geht die Beklagte in der Abmahnung davon aus, dass diese Pflicht gerade auch in der Freizeit des Klägers bestehe.

Diese rechtliche Bewertung ist unzutreffend. Zur näheren Begründung wird auf die obigen Ausführungen unter I. verwiesen.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Beklagte hat auch die Kosten hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Berufung zu tragen, weil dieser Teil nur die Gutschrift für 1,22 Stunden betrifft, die mit der Höhe der erzielten Vergütung zu bewerten sind. Dieser Wert ist im Vergleich zum Gesamtstreitwert verhältnismäßig geringfügig. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

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VonRA Moegelin

Bußgeld wegen Verzehr von Speisen beim Fahren

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Durch die Zubereitung und den Verzehr eines Müslis ist der Fahrer eines Fahrzeuges bei einer vorwerfbaren Geschwindigkeit von 64 km/h nicht in der Lage, angemessen auf eine etwaige Gefahrensituation zu reagieren. Eine Beherrschung des Fahrzeugs ist beeinträchtigt, da aufgrund der Handhaltung eine spontane Lenkbewegung oder gar Gefahrenbremsung nicht möglich gewesen wäre. (AG Karlsruhe, Urteil vom 29.4.2019 – 6 OWi 440 Js 24131/18)

 

Tenor

Der Betroffene wird wegen Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit zu einer Geldbuße in Höhe von 100,00 Euro verurteilt.

Die Kosten des Verfahrens und die eigenen notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt der Betroffene.

Angewandte Bußgeldvorschriften: §§ 3 Abs. 1, 49 StVO; § 24 StVG

 

Gründe

I.
1

Der Betroffene wurde 1956 in W. geboren.
2

Verkehrsrechtlich ist der Betroffene bisher wie folgt in Erscheinung getreten:
3

1. Am 18.03.2015 setzte die Bußgeldbehörde ZBS V. gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 32 km/h, begangen am 07.02.2015, eine Geldbuße von 160,00 Euro fest und verhängte ein Fahrverbot von einem Monat gegen den Betroffenen. Diese Entscheidung ist seit dem 08.04.2015 rechtskräftig. Das Fahrverbot lief am 23.07.2015 ab.
4

2. Am 29.11.2017 setzte das Amtsgericht R. gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 18 km/h, begangen am 25.04.2017, eine Geldbuße in Höhe vom 70,00 Euro fest. Diese Entscheidung ist seit dem 28.12.2017 rechtskräftig.
II.
5

Der Betroffene hat am 11.04.2018 um 10:37 Uhr in K., BAB, AS K. in Richtung AS Tank- und Rastanlage B., km 597,000 als Führer des Lkw mit Anhänger der Marke MAN mit dem amtlichen Kennzeichen … die folgende Ordnungswidrigkeit begangen:
6

Er fuhr mit nicht angepasster Geschwindigkeit.
7

Der Betroffene führte den oben bezeichneten Lkw mit einer vorwerfbaren Geschwindigkeit von 64 km/h (nach Toleranzabzug). Währenddessen beugte er sich mehrfach auf seinem Fahrersitz zur Mittelkonsole, um Müsli sowie Milch aus einem Tetrapak in eine Schale zu füllen. Anschließend verzehrte er das so zubereitete Müsli mittels eines Löffels, wobei er die Hände locker auf das Lenkrad auflegte, mit der linken Hand das Behältnis mit dem Müsli hielt und mit der rechten Hand mittels eines Löffels das Müsli aus dem Behältnis entnahm und dieses zum Mund führte. Es handelt sich um eine fahrfremde Tätigkeit.
8

Aufgrund der Ablenkung durch die Zubereitung und das Verzehren des Müslis war der Betroffene nicht in der Lage, bei der vorwerfbaren Geschwindigkeit von 64 km/h auf mögliche Gefahrensituationen im Rahmen einer angemessenen Zeitspanne zu reagieren.
9

Dies hätte der Betroffene bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt erkennen und vermeiden können.
III.
10

Die Feststellungen zu den Personalien des Betroffenen und seinem bisherigen Verkehrsverhalten unter I. beruhen auf den Angaben der Verteidigerin des Betroffenen und der Verlesung des Fahreignungsregisters. Weitere Angaben wurden nicht gemacht.
11

Die Überzeugung, dass der Betroffene den Verkehrsverstoß, so wie oben unter II. festgestellt, begangen hat, hat das Gericht gewonnen durch die Inaugenscheinnahme der gefertigten Lichtbilder (As. 9 ff.) sowie durch die Vernehmung der Zeugen Polizeihauptmeister H. und Polizeimeister K.
12

Der Betroffene hat durch Schriftsatz vom 18.02.2019 (As. 109) eingeräumt, Fahrer des Tatfahrzeugs zu sein. Er hat außerdem bei seiner Kontrolle durch die Zeugen PHM H. und PM K. diesen gegenüber eingeräumt, während der Fahrt mit dem oben unter II. bezeichneten Lkw Essen zubereitet zu haben. Dies hat der Zeuge PHM H. im Rahmen seiner Vernehmung bestätigt.
13

Die gefahrene Geschwindigkeit des Betroffenen gaben die Zeugen PHM H. und PM K. übereinstimmend mit 80-90 km/h an. Der Betroffene sei mit konstanter Geschwindigkeit gefahren. Die Geschwindigkeit des Betroffenen wurde gemessen, indem der Zeuge PM K. als Fahrer des Fahrzeuges der Polizei sich mit dem Fahrzeug auf die linke Fahrspur neben den auf der rechten Spur fahrenden Betroffenen begab und mit ähnlicher Geschwindigkeit neben diesem herfuhr. Der Zeuge gab an, er habe auch deshalb auf die Einhaltung der konstanten Geschwindigkeit geachtet, um dem Zeugen PHM H. das Fotografieren des Betroffenen zu ermöglichen. In der Zeit, in der er neben dem Betroffenen hergefahren sei, habe er – abgesehen davon, dass er auf die Straße geachtet habe – den Tacho im Blick gehabt. Dieser Tacho ist ausweislich der Angaben des Zeugen PHM H. nicht geeicht. Es habe Tageslicht geherrscht, Regen habe es keinen gegeben. Der Bereich der Strecke, in dem der Betroffene kontrolliert worden ist, verlaufe gerade. Die Länge der Strecke, in der die Kontrolle erfolgte, gaben die Zeugen unterschiedlich an. Während der Zeuge PM K. von einer Streckenlänge von etwa einem Kilometer ausging, teilte der Zeuge PHM H. mit, sie seien etwa 10 bis 15 Sekunden (was bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h einer Strecke von 220-330 Metern entspricht) neben dem Betroffenen hergefahren. Der Zeuge PHM H. begründete die von ihm angegebene Dauer damit, dass er während des Fahrens sechs Lichtbilder von dem Betroffenen gefertigt habe. Für die Fertigung eines Bildes habe er etwa eine Sekunde benötigt. Es habe sich dabei nicht um Serienbilder, sondern um Einzelaufnahmen gehandelt, sodass eine gewisse Zeit zwischen den Bildern verstrichen sei.
14

Angesichts der Dauer der Fertigung der Lichtbilder ist hier von einer Strecke von mindestens 220-330 Metern auszugehen, während der die Zeugen neben dem Betroffenen herfuhren. Im Hinblick auf die ermittelte gefahrene Geschwindigkeit des Betroffenen von 80-90 km/h ist zu Gunsten des Betroffenen von einer Geschwindigkeit von 80 km/h auszugehen. Da hier kein justiertes Messgerät benutzt wurde sowie zum Ausgleich weiterer Fehlerquellen ist ein weiterer Toleranzabzug von 20 % vorzunehmen. Die dem Betroffenen vorzuwerfende Geschwindigkeit beläuft sich damit auf 64 km/h.
15

Die Zubereitung und den Verzehr des Müslis hat der Zeuge PHM H. glaubhaft angegeben. Er habe sich im Rahmen einer polizeilichen Kontrolle erhöht in einem dafür vorbereiteten Wohnmobil befunden. Aus diesem habe er in erhöhter Position – etwa auf Höhe der Fahrerkabinen von Lastkraftwagen – durch ein Fenster von 50 x 120 Metern in die Fahrerkabine des Betroffenen sehen können. Er habe somit wahrgenommen, wie der Betroffene sich mehrfach in Richtung der Mittelkonsole gebeugt und in dieser Position Müsli und Milch aus einem Tetrapak in eine Schale gefüllt habe. Anschließend habe der Betroffene – die Schale in der linken und einen Löffel in der rechten Hand – das Müsli verzehrt. Seine Hände hätten dabei allenfalls auf dem Lenkrad aufgelegen. Diese Handhaltung und der Verzehr des zubereiteten Müslis wird auch bestätigt, durch die von dem Zeugen PHM H. gefertigten Lichtbilder (As. 9 ff.), die im Rahmen der Hauptverhandlung in Augenschein genommen wurden.
16

Die Aussagen der Zeugen PHM H. und PM K. sind glaubhaft. Beide schildern die Umstände des Verhaltens des Betroffenen übereinstimmend. Sie gaben ihre Beobachtungen sachlich und ohne Belastungseifer bezüglich des Betroffenen wieder. Die Angaben des Zeugen PHM H. werden zudem teilweise durch die gefertigten Lichtbilder bestätigt. Der Betroffene hat sein Verhalten unmittelbar nach der Kontrolle durch die Zeugen vor Ort eingeräumt.
IV.
17

Der Betroffene ist somit
18

fahrlässig nicht lediglich so schnell gefahren, dass er das Fahrzeug ständig beherrscht,
19

zu ahnden als Fahren mit nicht angepasster Geschwindigkeit gemäß §§ 3 Abs. 1, 49 StVO; § 24 StVG.
20

Durch die Zubereitung und den Verzehr des Müslis war der Betroffene bei einer vorwerfbaren Geschwindigkeit von 64 km/h nicht in der Lage, angemessen auf eine etwaige Gefahrensituation zu reagieren. Eine Beherrschung des Fahrzeugs kam bereits deshalb nicht in Betracht, da aufgrund der Handhaltung des Betroffenen eine spontane Lenkbewegung oder gar Gefahrenbremsung nicht möglich gewesen wäre. Hier liegt insbesondere auch ein erhöhtes Gefahrenpotential gegenüber den durch die Verteidigung schriftsätzlich vorgebrachten Verzehr einer Scheibe Brot. Denn bei dem Verzehr einer Scheibe Brot wird – im Gegensatz zu dem hier vorgeworfenen Verzehr eins Müslis – nur eine Hand benötigt, wohingegen mit der anderen Hand das Lenkrad umfasst werden kann. Bei der dem Betroffenen vorwerfbaren Geschwindigkeit von 64 km/h genügt eine Unaufmerksamkeit von einer Sekunde, um 20 Meter zurückzulegen. Diese Zeitspanne ist bei mehrmaligem Beugen über die Mittelkonsole bereits überschritten.
21

Unerheblich ist insoweit, ob der Betroffene Assistenzsysteme wie einen Spurhalteassistenten oder einen Tempomat benutzt hat. Denn die Benutzung solcher Hilfsmittel entbindet den Kraftfahrer nicht davon, die Straße und die sonstigen Verkehrsteilnehmer aufmerksam zu beobachten und selbstständig Gefahrensituationen einzuschätzen und zu vermeiden.
22

Unerheblich ist weiterhin, dass gute Wetterbedingungen herrschten und die vorwerfbare Handlung auf gerader Strecke erfolgte. Auch ideale äußere Bedingungen gewährleisten nicht, dass es nicht zu Fahrfehlern anderer Verkehrsteilnehmer oder sonstiger Gefahrensituationen kommt, auf die ein Kraftfahrer frühzeitig reagieren können muss.
23

Schließlich ist unerheblich, dass sich der Betroffene im Rahmen der angeordneten Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h bewegt hat. Die dem Betroffenen vorwerfbare Geschwindigkeit von 64 km/h liegt zwar unter diesem Wert. Sie gewährleistet aber bei der fahrfremden Betätigung des Betroffenen keine ständige Beherrschung des Fahrzeugs. Dass er die angeordnete Höchstgeschwindigkeit überschritten hätte, wird dem Betroffenen nicht vorgeworfen.
24

Der Bußgeldbescheid ist auch nicht im Hinblick auf fehlende Bestimmtheit im Sinne des § 66 Abs. 1 OWiG unwirksam, da der Bußgeldbescheid den Vorwurf erhob, der Betroffene sei „bei schlechten Sicht- und Wetterverhältnissen“ nicht mit angepasster Geschwindigkeit gefahren. Die Sicht- und Wetterverhältnisse waren ausweislich der Zeugenaussagen vorliegend gut. Ein schwerwiegender Mangel, der die Unwirksamkeit des Bußgeldbescheides nach sich zieht, liegt jedoch erst dann vor, wenn dem Betroffenen dadurch unmöglich gemacht wird, nachzuvollziehen, welcher Vorwurf gegen ihn erhoben wird (vgl. etwa OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2004 – 3 Ss Owi 587/03). Hier wurde der Betroffene noch vor Ort mündlich durch die Zeugen belehrt, ihm wurde der Vorwurf erläutert. Der ihm später zugestellte Bußgeldbescheid erhielt dieselbe Bußgeldnorm wie der hier untersuchte Vorwurf. Weiterhin wird durch die Angabe der Person des Betroffenen, Zeit und Ort der Tat sowie Fabrikat und Kennzeichen des Fahrzeugs die Tat auch für den Betroffenen dahingehend individualisiert, dass diese von anderen denkbaren Tatvorwürfen abgegrenzt wird.
V.
25

Eine Regelgeldbuße ist für das dem Betroffenen vorzuwerfende Verhalten nicht vorgesehen.
26

Bei der Bemessung der Geldbuße war daher insbesondere die Gefährlichkeit des Verhaltens für die anderen Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen. Die Situation ist insbesondere nicht mit der Überschreitung der angeordneten Höchstgeschwindigkeit vergleichbar, da hier hinzukommt, dass der Betroffene sein Fahrzeug nicht ständig beherrschte. Die dem Betroffenen vorgeworfene Handlung und die damit verbundene Ablenkung sind vielmehr vergleichbar mit der Ablenkung eines Fahrzeugführers, der bei der Fahrt ein elektronisches Gerät, das der Information, Kommunikation oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist, benutzt. Für einen solchen Verstoß sieht der Bußgeldkatalog, § 24 StVG, § 17 Abs. 1, Abs. 2 OWiG i.V.m. der BKatV, eine Regelgeldbuße von 100 Euro vor.
27

Das Gericht hat daher die Verhängung einer Geldbuße in Höhe von 100 Euro für angemessen und dem Grad des vorwerfbaren Handelns des Betroffenen entsprechend erachtet.
VI.
28

Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 465 Abs. 1 StPO.

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VonRA Moegelin

Urlaubsabgeltung eines Fahrers nach Entzug der Fahrerlaubnis

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Wird eine bestimmte Zeit durch rechtskräftige Entscheidung vom Urlaubs- und Urlaubsentgeltanspruch ausgenommen und hat sie deshalb für den Geldfaktor keinerlei Bedeutung, kann sie nicht die für den Bezugs- und damit für den Referenzzeitraum entscheidende Zeit sein. Es kommt damit auf den Verdienst in 13 Wochen vor dieser Zeit an. (Leitsätze)

Volltext des Urteils des LAG Baden-Württemberg vom 02.08.2022 – 11 Sa 27/22:

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Villingen-Schwenningen vom 28.04.2022 – 5 Ca 373/21 – wird auf deren Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Zahlung von Urlaubsabgeltung.
2

Der … Kläger bezieht Altersrente und war bei der Beklagten, die eine Spedition betreibt, vom 19. März 2019 bis 30. September 2021 als Kraftfahrer beschäftigt. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existiert nicht.
3

Wegen einer Trunkenheitsfahrt am 9. Mai 2021 wurde der Führerschein des Klägers eingezogen und mit Strafbefehl wurde der Kläger wegen fahrlässiger Trunkenheit verurteilt. Die Verwaltungsbehörde wurde angewiesen, ihm für die Dauer von zehn Monaten, somit bis zum

9. März 2022, keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Darauf meldete die Beklagte den Kläger zum 31. Mai 2021 aufgrund „Ende der Beschäftigung“ bei der Sozialversicherung ab. Schließlich kündigte der Kläger mit Schreiben vom 20. August 2021 das Arbeitsverhältnis zum Ablauf des 30. September 2021.
4

Mit seiner am 25. Oktober 2021 beim Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen eingereichten Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 11.850,92 EUR brutto Urlaubsabgeltung für die Jahre 2019 bis einschließlich 2021 nebst Zinsen an ihn zu verurteilen und ausgeführt, in seiner ganzen Beschäftigungszeit sei ihm kein einziger Tag Urlaub gewährt worden. Zudem sei er nie darauf hingewiesen worden, dass nicht genommener Urlaub verfalle.
5

Er habe seine Arbeitsunfähigkeit, bzw. den Verlust seiner Fahrerlaubnis nicht grob schuldhaft herbeigeführt, weshalb auch keine Berechnung mit Geldfaktor „0“ möglich sei. Der Geschäftsführer Herr X habe ihm zugesagt, pro Einsatztag, der um die neun Stunden dauere, pauschal 135,00 EUR brutto zu zahlen. Ihm stünden für die Jahre 2019, 2020 und 2021 insgesamt 90 abzugeltende Urlaubstage und damit 11.850,92 EUR brutto Urlaubsabgeltung zu, was er weiter ausgeführt hat.
6

Die Beklagte hat vor dem Arbeitsgericht Klagabweisung beantragt und vorgetragen, nach § 11 Abs. 1 Satz 3 BUrlG blieben Verdienstkürzungen im Berechnungszeitraum der vorausgehenden 13 Wochen wegen unverschuldeter Arbeitsversäumnis bei der Berechnung außer Betracht. Hier sei aber von verschuldeter Arbeitsversäumnis auszugehen. Da der Kläger in den letzten 13 Wochen vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses verschuldet keine Arbeitsleistung erbracht habe, sei der Durchschnittsverdienst in dieser Zeit mit 0,00 EUR anzusetzen. Zudem stehe dem Kläger für das Jahr 2021 ein Urlaubsanspruch von maximal 4/12 zu, weil das Arbeitsverhältnis in den Monaten Mai bis September 2021 aufgrund des Führerscheinentzugs suspendiert gewesen sei. Selbst wenn man den Führerscheinentzug und die daraus resultierende Arbeitsversäumnis als unverschuldet ansehe, sei die Urlaubsabgeltung anhand eines Durchschnittsverdienstes der letzten 13 Wochen vor dem 9. Mai 2021 zu berechnen.
7

Mit Urteil vom 28. April 2022 – 5 Ca 373/21 hat das Arbeitsgericht die Klage, soweit der Kläger Urlaubsabgeltung für die Zeit vom 9. Mai 2021 bis einschließlich 30. September 2021 begehrt hat, als unbegründet abgewiesen und ausgeführt, für diese Zeit sei die Arbeitsversäumnis aufgrund des Verlustes des Führerscheins wegen fahrlässiger Trunkenheitsfahrt verschuldet im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 3 BUrlG, weshalb der hierfür entstandene Urlaubsanspruch mit einem Geldfaktor von 0,00 EUR abzugelten sei, was es weiter ausgeführt hat. Diesbezüglich ist das arbeitsgerichtliche Urteil rechtskräftig.
8

Für die Zeit vom 19. März 2019 bis 9. Mai 2021 stehe dem Kläger ein Gesamturlaubsanspruch von 29,86 Urlaubstagen zu, was es weiter ausgeführt hat. Die Urlaubsansprüche aus den Kalenderjahren 2019 und 2020 seien dabei nicht verfallen, weil die Beklagte ihrer Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen sei (BAG 22. Oktober 2019 – 9 AZR 98/19). Diesbezüglich sei

§ 11 Abs. 1 Satz 3 BUrlG jedoch europarechtskonform auszulegen. Gemäß Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung erhalte jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen seien. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen. Der Anspruch auf Jahresurlaub und der auf Zahlung des Urlaubsentgelts würden als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs behandelt. Dabei bestehe der Zweck des in Artikel 7 Abs. 1 dem Arbeitnehmer gewährleisteten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub darin, dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen. Dabei bedeute der Ausdruck „bezahlter [Jahresurlaub]“ in Artikel 7 Abs. 1, dass das Arbeitsentgelt für die Dauer des „Jahresurlaub[s]“ im Sinne der Richtlinie weiter zu gewähren sei und dass der Arbeitnehmer mit anderen Worten für diese Ruhezeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten müsse. Durch das Erfordernis der Zahlung dieses Urlaubsentgelts solle der Arbeitnehmer nämlich während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar sei (EuGH 13. Dezember 2018 – C-385/17). Eine Anwendung des § 11 Abs. 1 Satz 3 BUrlG für diese Zeit widerspräche offensichtlich der Intension von Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG. Der bis zum 9. Mai 2021 aufgrund tatsächlicher Arbeitsleistung des Klägers entstandene Urlaubsanspruch sei demgegenüber unter Außerachtlassung der im Referenzzeitraum vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgetretenen verschuldeten Arbeitsversäumnis abzugelten.
9

Als Geldfaktor sei der zwischen den Parteien unstreitig vereinbarte Tagessatz von 135,00 EUR brutto in Ansatz zu bringen, weshalb dem Kläger für 29,68 Urlaubstage eine Urlaubsabgeltung in Höhe von 4.006,80 EUR brutto zuzusprechen sei. Der Zinsanspruch folge aus den §§ 286, 288 BGB.
10

Gegen dieses, der Beklagten am 23. Mai 2022 zugestellte Urteil wendet sich diese mit ihrer am 3. Juni 2022 eingereichten und sogleich begründeten Berufung.
11

Zur Begründung führt die Beklagte aus, das Arbeitsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass dem Kläger für 29,68 Urlaubstage ein Abgeltungsanspruch mit einem Tagessatz von 135,00 EUR brutto zustehe. Der Europäische Gerichtshof habe im Urteil vom 13. Dezember 2018 (- C-385/17) ausgeführt, dass die Struktur des gewöhnlichen Entgelts eines Arbeitnehmers den Vorschriften und Gepflogenheiten nach dem Recht der Mitgliedsstaaten unterliege. Diese Struktur sei in § 11 BUrlG geregelt. Danach führten Zeiten der verschuldeten Arbeitsversäumnis zu einer Reduzierung des Urlaubsentgelts und damit auch der Urlaubsabgeltung, was das Arbeitsgericht auch so darlege. Wenn dann der Kläger in den letzten 13 Wochen vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses verschuldet seine Tätigkeit nicht habe erbringen können, führe dies zum Ergebnis, dass er keine Urlaubsabgeltung beanspruchen könne.
12

Das Urteil sei auch nicht konsequent. Bei einem einmonatiges Fahrverbot innerhalb der letzten 13 Wochen vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses werde mit dem Durchschnittsverdienst der letzten 13 Wochen gerechnet, dh. dieser Arbeitnehmer würde schlechter gestellt als der Kläger, bei dem das Arbeitsgericht die Zeiten der unverschuldeten Arbeitsversäumnis gar nicht berücksichtige.
13

Wie das Arbeitsgericht zur These gelange, der Tagessatz von 135,00 EUR brutto sei unstreitig, sei nicht nachvollziehbar. Es gelte immer noch § 11 BUrlG, wonach der Durchschnittsverdienst der letzten 13 Wochen vor der Urlaubsinanspruchnahme maßgebend sei. Der Kläger führe in seiner Klage aus, er habe im Zeitraum 19. März 2019 bis 30. September 2021 durchschnittlich 2.830,53 EUR pro Monat verdient. Wie er zu diesem Durchschnittsverdienst komme, werde nicht näher erläutert. Dies werde bestritten. Außergerichtlich sei der Kläger noch von einem Durchschnittsverdienst von 2.038,53 EUR pro Monat ausgegangen. Selbst dann, wenn man den Führerscheinentzug aufgrund einer Trunkenheitsfahrt als unverschuldet ansehe, müsse eine Urlaubsabgeltung nach dem Durchschnittsverdienst der letzten 13 Wochen vor dem Tag des Führerscheinentzugs berechnet werden.
14

Die Beklagte beantragt,

15

das Urteil des Arbeitsgerichts Villingen-Schwenningen, Az: 5 Ca 373/21 abzuändern, soweit es der Klage stattgegeben hat, und die Klage insgesamt abzuweisen.
16

Der Kläger beantragt,

17

die Berufung zurückzuweisen.
18

Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, er habe durchschnittlich 2.830,53 EUR brutto im Monat verdient. Das Arbeitsgericht sei vollkommen zu Recht davon ausgegangen, dass Kürzungen des Anspruches auf Urlaubsabgeltung europarechtskonform auszulegen seien, was er weiter ausführt. Das Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen sei auch zutreffend von einem Tagessatz in Höhe von 135,00 EUR ausgegangen. Dieser Tagessatz sei zwischen ihm und der Beklagten vereinbart worden. Hierzu habe er bereits in seinem erstinstanzlichen Schriftsatz vom 24. Februar 2022 ausführlich vorgetragen. Dieser Vortrag sei von der Beklagten bisher auch nicht bestritten worden. Dieser Tagessatz ergebe sich auch aus den Lohnabrechnungen (K 7, K 8, K 9 K 10), indem man den Festlohn durch die Anwesenheitstage teile.
19

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Niederschriften über die mündlichen Verhandlungen in erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 

I.

20

Die Berufung ist statthaft (§ 64 Abs. 1 und Abs. 2 b ArbGG). Sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO). Die Berufungsbegründung lässt zudem iSd. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO die Umstände erkennen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben soll. Sie ist daher zulässig.

II.

21

Die Berufung ist aber unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht dem Kläger Urlaubsabgeltung iHv. 4.006,80 EUR brutto nebst Zinsen zugesprochen. Die Berufungskammer folgt der sorgfältigen Argumentation des Arbeitsgerichts (zu I 1 a, Seiten 6 bis 8 der Entscheidungsgründe) und stellt dies nach § 69 Abs. 2 ArbGG fest. Lediglich im Hinblick auf die Berufungsbegründung besteht Anlass zu folgenden Ausführungen:
22

1. Nach § 7 Abs. 4 BUrlG ist der Urlaub, der wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann, abzugelten.
23

a) Dass dem Kläger bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch 29,68 Urlaubstage für die Zeit von Beginn des Arbeitsverhältnisses bis zum 8. Mai 2021 zustanden, hat das Arbeitsgericht im Einzelnen – von der Berufung unangegriffen – dargelegt. Dieser Urlaub konnte dem Kläger nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 30. September 2021 auch nicht mehr gewährt werden.
24

b) § 1 BUrlG regelt den Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Erholungsurlaub (BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 10/17). Das Bundesurlaubsgesetz gibt hiernach nicht nur einen Freistellungsanspruch, sondern auch einen Anspruch auf Bezahlung. Die Vorschrift verlangt, dass die Zeit der Freistellung von der Arbeitspflicht „bezahlt“ sein muss. Sie entspricht insoweit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie/88/EG, der den Anspruch auf Freistellung und demjenigen auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Aspekte eines einzelnen Anspruchs behandelt (BAG 10. Februar 2015 – 9 AZR455/13).
25

§ 11 BUrlG regelt nicht die Anspruchsgrundlage (so schon der schriftliche Bericht des Ausschusses für Arbeit BT-Drucks. IV/207), sondern stellt die Regeln auf, wie sich die zu zahlende Vergütung berechnet (Arnold/Tillmanns, BUrlG § 11 Rz. 2). Diese ermitteln sich aus einem Zeitfaktor und einem Geldfaktor (ErfK/Gallner § 11 BUrlG Rn. 2a mwN; Arnold/Tillmanns, BUrlG aaO Rz. 11).
26

aa) Der Zeitfaktor regelt den konkreten Urlaubsanspruch, entspricht also hier den arbeitsgerichtlich festgestellten 29,68 Urlaubstagen, unter Berücksichtigung dessen, dass das Arbeitsgericht die Zeit vom 9. Mai 2021 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2021 vollständig aus der Berechnung herausgenommen hat. Diesbezüglich ist die arbeitsgerichtliche Entscheidung nicht angegriffen und rechtskräftig.
27

bb) Hinsichtlich des Geldfaktors gilt: Da das „Referenzprinzip“ Anwendung findet (ErfK/Gallner § 11 BUrlG Rn. 2a), muss dieser aus dem “Bezugszeitraum“ ermittelt werden. Hierfür hat der Gesetzgeber den vermuteten, jeweils aktuellen Zeittraum der typischen Entgeltzahlung von 13 Wochen vor Beginn des Urlaubs gewählt, in dem die dort bezogene Vergütung noch verschiedenen Korrekturen unterworfen wird (vgl. hierzu Arnold/Tillmanns aaO Rz. 12 ff.).
28

aaa) Daraus folgt: Nachdem die Zeit ab 9. Mai 2021 durch rechtskräftige Entscheidung vom Urlaubs- und Urlaubsentgeltanspruch ausgenommen wurde und deshalb für den Geldfaktor keinerlei Bedeutung hat, kann sie bereits begrifflich nicht die für den Bezugs- und damit für den als Referenzzeitraum entscheidende Zeit sein.
29

bbb) Die Argumentation der Beklagten hinsichtlich eines einmonatigen Fahrverbots greift schon deshalb nicht, weil der Referenzzeitraum ein anderer wäre.
30

ccc) Hinsichtlich der genauen Berechnung des Geldfaktors käme es nach § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG folglich auf die 13 Wochen vor dem 9. Mai 2021 an. Diesbezüglich hat das Arbeitsgericht zu Recht festgestellt, der Vortrag des Klägers, er habe mit dem Geschäftsführer der Beklagten einen Tagessatz von 135,00 EUR vereinbart, sei unstreitig. Denn einzelvertraglich kann eine günstigere Regelung vereinbart werden, § 13 Abs. 1 BUrlG. Der Vortrag der Beklagten in der Berufungsbegründung, es gelte immer noch § 11 BUrlG, reicht deshalb für einen tauglichen Angriff nicht aus.
31

3. Damit konnte die Berufung des Klägers keinen Erfolg haben.

III.

32

1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
33

2. Die Revision war nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen, weil die Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat.

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VonRA Moegelin

Schadensersatz wegen Impfschaden

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Bei ordnungsgemäßer Aufklärung über die Risiken der beiden verabreichten COVID-19-Impfungen gibt es keinen Schadensersatz für Pflegeheim-Mitarbeiterin gegen die Impfärztin

Volltext der Pressemitteilung des Landgerichts Heilbronn vom 14.02.2023- Wo 1 O 65/22:

Die erste Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn hat heute in obiger Sache entschieden, dass der klagenden ehemaligen Pflegeheim-Mitarbeiterin kein Entschädigungsanspruch gegen die beklagte Impfärztin wegen eines behaupteten Impfschadens nach zwei Covid-19-Impfungen zusteht. Sie hat ihre Klage daher abgewiesen.

Die Klägerin absolvierte in einem Pflegeheim eine Ausbildung zur Kranken- und Altenpflegerin. Sie wurde dort von der Beklagten im Januar und Februar 2021 mit einem der neuen mRNA-Impfstoffe geimpft. Mit Verdacht auf eine Impfreaktion wurde sie nach der zweiten Impfung in einem Heilbronner Klinikum einige Tage stationär behandelt. Vor der Kammer hat sie die von der Beklagten bestrittene Behauptung aufgestellt, sie sei von der Beklagten nicht über die Risiken der Impfung aufgeklärt worden. Für einen von ihr weiter behaupteten neurologischen Dauerschaden, der auf die Impfung zurückzuführen sei, hafte daher die Beklagte. Folglich stehe ihr ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000 € sowie der Ersatz ihres Haushaltsführungs- und Erwerbsausfallschadens zu.

Die Kammer hat einen Anspruch der Klägerin verneint. Sie hat es in tatsächlicher Hinsicht als erwiesen angesehen, dass die Klägerin von der Beklagten ordnungsgemäß über die Risiken der beiden verabreichten COVID-19-Impfungen aufgeklärt worden ist. Namentlich hat die Klägerin vor der Impfung ein Aufklärungsmerkblatt mit den Risiken und Nebenwirkungen der Impfung mit einem mRNA-Impfstoff überlassen erhalten und in den Impfterminen Gelegenheit gehabt, Fragen an die Beklagte zu stellen. Die Kammer hat diese Aufklärung in rechtlicher Hinsicht als ausreichend angesehen. Die Klage konnte daher selbst dann keinen Erfolg mehr haben, wenn die Klägerin den behaupteten Impfschaden tatsächlich erlitten hätte. Zu der streitigen Frage, ob ein solcher Impfschaden vorgelegen hat, hat die Kammer daher keinen Beweis mehr erhoben.

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