Monatsarchiv 31. Juli 2021

VonRA Moegelin

Entgeltfortzahlung für Arbeitnehmer in Quarantäne

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Eine gegenüber einem arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer angeordnete Quarantäne schließt dessen Entgeltfortzahlungsanspruch nicht aus. Das hat das Arbeitsgericht Aachen entschieden.

Der klagende Arbeitnehmer suchte im Mai 2020 wegen Kopf- und Magenschmerzen einen Arzt auf. Dieser stellte die Arbeitsunfähigkeit fest, führte einen Covid-19-Test durch und meldete dies gegenüber dem zuständigen Gesundheitsamt. Das Gesundheitsamt ordnete wenige Tage später gegenüber dem Kläger Quarantäne an; der Covid-19-Test fiel im Nachgang negativ aus. Nach Kenntnis von der Quarantäneanordnung zog die Arbeitgeberin die zunächst an den Kläger geleistete Entgeltfortzahlung von der Folgeabrechnung wieder ab und brachte stattdessen eine Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz zur Auszahlung. Sie hat sich darauf berufen, dass bei einem Zusammentreffen von Quarantäne und Erkrankung Ansprüche nach dem Infektionsschutzgesetz Entgeltfortzahlungsansprüche verdrängten.

Die auf Zahlung der sich aus der Rückrechnung ergebenden Differenz gerichtete Klage des Klägers hatte Erfolg. Das Arbeitsgericht ist der Argumentation der Arbeitgeberin nicht gefolgt und hat festgestellt, dass die angeordnete Quarantäne den Entgeltfortzahlungsanspruch des arbeitsunfähig erkrankten Klägers nicht ausschließt. Es sei zwar richtig, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch die Arbeitsunfähigkeit als einzige Ursache für den Wegfall des Arbeitsentgeltanspruches voraussetze. Diese Voraussetzung liege hier aber vor, da der Arzt die Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Kopf- und Magenschmerzen attestiert habe. Demgegenüber bestehe der Entschädigungsanspruch nach § 56 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz gerade nicht für arbeitsunfähig Kranke, sondern nur für Ausscheider, Ansteckungs- und Krankheitsverdächtige. Nur bei den Genannten, bei denen der Verdienst gerade aufgrund einer infektionsschutzrechtlichen Maßnahme entfalle, müsse auf die subsidiäre Regelung des Infektionsschutzgesetzes zurückgegriffen werden.

Arbeitsgericht Aachen, Urteil vom 30.03.2021 – Aktenzeichen: 1 Ca 3196/20

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VonRA Moegelin

Anspruch auf betriebliche Invaliditätsversorgung – BAG 3 AZR 445/20

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Die nur befristete Gewährung einer Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung steht einem Anspruch auf betriebliche Invaliditätsversorgung nicht entgegen, wenn die Versorgungszusage vorsieht, dass „bei Eintritt einer voraussichtlich dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts“ eine monatliche Invalidenrente gezahlt wird.

Die Beklagte erteilte dem Kläger im Jahr 2000 eine Versorgungszusage, die ua. Leistungen der betrieblichen Invaliditätsversorgung „bei Eintritt einer voraussichtlich dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts“ vorsieht. Der Kläger bezieht seit dem 1. Juni 2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese war zunächst auf die Dauer von drei Jahren bis zum 31. Mai 2020 befristet bewilligt worden. Die Deutsche Rentenversicherung begründete in ihrem Rentenbescheid die Befristung mit den medizinischen Untersuchungsbefunden, nach denen es nicht unwahrscheinlich sei, dass die volle Erwerbsminderung behoben werden könne. Der Kläger hat zuletzt eine betriebliche Invaliditätsversorgung für die Zeit vom 1. Juni 2017 bis zum 30. April 2020 iHv. insgesamt 1.433,25 Euro zzgl. Verzugszinsen geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen der Versorgungszusage seien erfüllt. Dass die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen voller Erwerbsminderung nur befristet bewilligt worden sei, sei unschädlich. Er sei gleichwohl seit dem 1. Juni 2017 voraussichtlich dauernd erwerbsunfähig im Sinne des Sozialversicherungsrechts. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen der Versorgungszusage lägen nicht vor; der Kläger sei nicht „voraussichtlich dauernd“ erwerbsunfähig, sondern nur für die Dauer von drei Jahren. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr entsprochen.

Die Revision der Beklagten hatte vor dem Dritten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Versorgungszusage verlangt für den Anspruch auf betriebliche Invaliditätsversorgung eine voraussichtlich dauernde völlige Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts. Damit bezieht sie sich auf § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI in der bei der Erteilung der Versorgungszusage geltenden Fassung und nunmehr auf § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, also die Regelungen über die Voraussetzungen einer an die Invalidität anknüpfenden Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Für die Frage der voraussichtlich dauerhaften völligen Erwerbsunfähigkeit bzw. vollständigen Erwerbsminderung ist die nach §§ 99 ff. SGB VI vorgesehene befristete Gewährung der Invaliditätsrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Bedeutung. Dabei handelt es sich lediglich um Verfahrensvorschriften, die nicht den Begriff der dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts definieren, den die Versorgungszusage in Bezug nimmt.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. Juli 2021 – 3 AZR 445/20 –
Pressemitteilung Nr. 19/21 vom 13.07.2021
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 30. Juli 2020 – 4 Sa 123/20 –

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VonRA Moegelin

Fristlose Kündigung wegen Nichttragens eines Mund-Nasen-Schutz

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Das Arbeitsgericht Köln hat die außerordentliche Kündigung eines Servicetechnikers für wirksam befunden, die der Arbeitgeber aufgrund des Nichttragens eines Mund-Nasen-Schutzes nach erfolgloser Abmahnung ausgesprochen hat.

Der Kläger war bei der beklagten Arbeitgeberin als Servicetechniker im Außendienst beschäftigt. Aufgrund der Pandemiesituation erteilte die Beklagte allen Servicetechnikern die Anweisung, bei der Arbeit bei Kunden eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Anfang Dezember 2020 weigerte sich der Kläger, einen Serviceauftrag bei einem Kunden durchzuführen, der ausdrücklich auf das Tragen einer Maske bestand. Unter dem Betreff „Rotzlappenbefreiung“ reichte der Kläger bei der Beklagten ein im Juni 2020 auf Blankopapier ausgestelltes ärztliches Attest ein, in dem es heißt, dass es für den Kläger „aus medizinischen Gründen unzumutbar ist, eine nicht-medizinische Alltagsmaske oder eine vergleichbare Mund-Nasen-Bedeckung im Sinne der SARS-COV-2 Eindämmungsmaßnahmenverordnung zu tragen“. Daraufhin erteilte die Beklagte dem Kläger die Weisung, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen und teilte mit, dass sie das Attest mangels konkreter nachvollziehbarer Angaben nicht anerkenne, aber die Kosten für den medizinischen Mund-Nasen-Schutz übernehmen werde. Nachdem der Kläger den Serviceauftrag weiterhin ablehnte, mahnte die Beklagte ihn zunächst ab. Dessen ungeachtet teilte der Kläger mit, dass er den Einsatz auch zukünftig nur durchführen werde, wenn er keine Maske tragen müsse. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich.

Die 12. Kammer des Arbeitsgerichts Köln hat die hiergegen vom Kläger erhobene Kündigungsschutzklage abgewiesen. Mit seiner beharrlichen Weigerung, bei der Ausübung seiner Tätigkeit beim Kunden den von der Beklagten angeordneten und von dem Kunden verlangten Mund-Nasen-Schutz zu tragen, habe der Kläger wiederholt gegen seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen verstoßen. Eine Rechtfertigung hierfür ergebe sich auch nicht aufgrund des vorgelegten Attests. Zum einen sei das Attest nicht aktuell gewesen. Zum anderen sei ein Attest ohne konkrete Diagnose eines Krankheitsbildes nicht hinreichend aussagekräftig, um eine Befreiung von der Maskenpflicht aus gesundheitlichen Gründen zu rechtfertigen. Schließlich bestünden Zweifel an der Ernsthaftigkeit der vom Kläger behaupteten medizinischen Einschränkungen, da der Kläger selbst den Mund-Nasen-Schutz als Rotzlappen bezeichnet habe und dem Angebot einer betriebsärztlichen Untersuchung nicht nachgekommen sei.

Gegen das Urteil kann Berufung beim Landesarbeitsgericht Köln eingelegt werden.

Arbeitsgericht Köln, Urteil vom 17.06.2021 – 12 Ca 450/21
vgl. Pressemitteilung vom 30.06.2021 -hier im Wortlaut abgedruckt

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VonRA Moegelin

Erhöhte Geldbuße bei Missachtung von drei Verkehrsschildern

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Ein Autofahrer handelt mit erhöhter Fahrlässigkeit, wenn er sein Fahrverhalten trotz mehrfach hintereinander aufgestellter Verkehrszeichen nicht angepasst hat. Im hier einschlägigen Fall wurden drei Verkehrsschilder missachtet. Gegenüber dem Regelfall – dem achtlosen Vorbeifahren an nur einem die Geschwindigkeit beschränkenden Verkehrszeichen – ist der Fahrlässigkeitsvorwurf daherals erhöht anzusehen, was es rechtfertigt, die Regelgeldbuße entsprechend zu erhöhen.

Volltext des Beschlusses des OLG Koblenz, Beschluss vom 08.03.2021 – 4 OWi 6 SsRs 26/21:

Tenor

1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Linz am Rhein vom 22. Mai 2020 wird zugelassen.

2. Die Sache wird auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

3. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das zu Ziffer 1. bezeichnete Urteil wird auf seine Kosten (§ 46 Abs. 1 OWiG iVm. § 473 Abs. 1 S. 1 StPO) als unbegründet verworfen.

Gründe

I.1. Die Zentrale Bußgeldstelle beim Polizeipräsidium R. hat mit Bußgeldbescheid vom 2. Oktober 2019 gegen den Betroffenen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 21 km/h ein Bußgeld von 70,- Euro festgesetzt.

Im Verfahren nach hiergegen eingelegtem Einspruch hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen fahrlässiger Begehungsweise dieser Ordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße von 85,- Euro verurteilt. Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene am 23. Juni 2019 mit einem Pkw die Bundesautobahn A . in der Gemarkung N., Fahrtrichtung F., im dort auf 100 km/h beschränkten Bereich mit einer Geschwindigkeit von 121 km/h (nach Toleranzabzug), wobei die die Beschränkung anordnenden Verkehrszeichen vor der Messstelle dreimal beidseitig wiederholt aufgestellt waren (bei Autobahn-Km 43.375, 44.300 u. 45.450). Die Messung selbst erfolgte im standardisierten Messbetrieb mit dem Gerät ES 3.0 der Firma … GmbH, Softwareversion 1.008.

Das Amtsgericht hat weiter festgestellt, dass der Betroffene die Verkehrsschilder beim Vorbeifahren wahrgenommen hat und dass er bei Einhaltung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt die angeordnete Höchstgeschwindigkeit hätte einhalten können.

Die Erhöhung der an sich verwirkten Regelgeldbuße von 70,- Euro um 15,- Euro hat das Amtsgericht damit begründet, dass der Betroffene mit erhöhter Fahrlässigkeit gehandelt habe, weil er sein Fahrverhalten trotz mehrfach hintereinander aufgestellter Verkehrszeichen nicht angepasst habe.

2. Gegen dieses Urteil hat sich der Betroffene zunächst durch Telefax-Schreibens seines Verteidigers vom 11. Juni 2020 mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewendet, ohne dieses Begehren in der Folge näher zu begründen. Das Amtsgericht hat den Antrag dahingehend ausgelegt, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung begehrt werde, diesen Antrag jedoch durch Beschluss vom 22. Oktober 2020 als unzulässig verworfen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Betroffenen hat die 12. Strafkammer des Landgerichts Koblenz am 17. Dezember 2020 als unbegründet verworfen.

3. Darüber hinaus hat der Betroffene durch das Telefax-Schreiben seines Verteidigers am 11. Juni 2020 auch Rechtsbeschwerde einlegen lassen, deren Zulassung er zugleich beantragt. Er rügt allgemein die Verletzung formellen und materiellen Rechts, wobei Verfahrensrügen in der Folge nicht weiter ausgeführt und begründet werden.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 27. Januar 2021 beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen; sie ist der Auffassung, der Fall biete keine Veranlassung, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen. Der Senat hat davon abgesehen, dieses Votum dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger zur Kenntnis zu bringen, weil die darin geäußerte Rechtsauffassung aus Sicht des Senats nicht zutreffend ist.

II. Der Einzelrichter des Senats hat die Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zur Fortbildung des sachlichen Rechts zugelassen, nämlich hinsichtlich der Frage, ob das Vorbeifahren an mehreren beidseitig aufgestellten Verkehrszeichen und deren Nichtbeachtung einen erhöhten Fahrlässigkeitsvorwurf begründet, welchem durch Erhöhung der in der BKatV vorgesehenen Regelgeldbuße Rechnung getragen werden kann.

Er hat die Sache dann gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG sowohl zur Fortbildung des Rechts als auch – was nach Zulassung der Rechtsbeschwerde auch in Ansehung der Vorschrift des § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG möglich ist – zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

III. 1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und im Hinblick auf die Sachrüge auch in der gesetzlich vorgeschriebenen Form eingelegt und begründet worden. Soweit der Betroffene die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften beanstandet, erweist sich das Rechtsmittel als unzulässig, weil entgegen § 79 Abs. 3 OWiG iVm. § 344 Abs. 2 StPO die den Mangel enthaltenden Tatsachen nicht angegeben werden.

2. In der Sache führt das Rechtsmittel nicht zum Erfolg. Die Überprüfung des Urteils hat auf die Sachrüge hin keine Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen aufgedeckt.

Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften gemäß §§ 24 Abs. 1 StVG, 41 Abs. 1, 49 Abs. 1 Nr. 4 StVO iVm. Nr. 11.3.4 BKatV in objektiver wie subjektiver Weise.

Auch der Rechtsfolgenausspruch ist frei von Rechtsfehlern.

Insbesondere ist ein sachlich-rechtlicher Verstoß nicht darin zu sehen, dass das Amtsgericht die Regelgeldbuße gemäß BKatV von 70,- Euro um 15,- Euro erhöht hat, weil es dem Betroffenen eine erhöhte Fahrlässigkeit angelastet hat.

In der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Koblenz wird die Frage, ob der Betroffene mit erhöhter Fahrlässigkeit handelt, wenn er mehrere beidseitig aufgestellte Verkehrszeichen ignoriert, ohne sein Fahrverhalten entsprechend anzupassen, unterschiedlich beantwortet, wobei bislang – soweit ersichtlich – hierzu eine Senatsentscheidung noch nicht vorliegt.

Dies wird in einigen Entscheidungen des 1. und 2. Bußgeldsenats bejaht (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 1 OWi 6 SsRs 361/20 v. 25.11.2020; 1 OWi 6 SsRs 253/30 v. 02.10.2020; 2 OWi 6 SsBs 30/20 v. 11.03.2020; 1 OWi 6 SsBs 11/18 v. 08.06.2018). Demgegenüber ist in einer Entscheidung des links unterzeichnenden Einzelrichters des 3. Bußgeldsenats die Auffassung vertreten worden, dass durch ein solches Fehlverhalten der Fahrlässigkeitsvorwurf nicht erhöht wird und deshalb eine darauf gestützte Erhöhung der Regelgeldbuße zu unterbleiben hat (OLG Koblenz, Beschl. 3 OWi 6 SsRs 299/20 v. 26.10.2020).

Der Senat entscheidet die Rechtsfrage jetzt dahingehend, dass in den besagten Fällen ein gegenüber dem Regelfall – dem achtlosen Vorbeifahren an nur einem die Geschwindigkeit beschränkenden Verkehrszeichen – der Fahrlässigkeitsvorwurf als erhöht anzusehen ist, was es rechtfertigt, die Regelgeldbuße entsprechend zu erhöhen. An der anderslautenden Rechtsprechung des Einzelrichters des Senats vom 26. Oktober 2020 wird nicht mehr festgehalten.

Grundsätzlich sind die Regelsätze der BKatV für die Gerichte verbindlich, da sie Rechtssatzqualität haben (vgl. BeckOK-OWiG/Sackreuther, § 17 Rn. 111; KK-OWiG/Mitsch § 17 Rn. 103). Dabei gehen die Bußgeldregelsätze für fahrlässiges Handeln von gewöhnlichen Fällen aus; ein Abweichen hiervon ist nur dann angezeigt, wenn außergewöhnliche, besondere Umstände vorliegen, die nicht dem durchschnittlichen Fahrlässigkeitsgrad entsprechen. Dies ergibt sich aus § 17 Abs. 3 OWiG, wonach Grundlage für die Zumessung der Geldbuße die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der Vorwurf sind, der den Täter trifft.

Der individuelle Sorgfaltsverstoß, der dem Betroffenen hier anlastet, ist nach den Urteilsgründen des Amtsgerichts darin zu sehen, dass er trotz Kenntnis der im Messstellenbereich durch Zeichen 274 angeordneten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h sein Fahrverhalten sorgfaltswidrig nicht angepasst hat, obwohl er zuvor wiederholt durch die mehrfache Beschilderung mit dem gleichen Zeichen dazu angehalten worden ist. Diesem Verhalten liegt eine gegenüber dem Regelfall, der Nichtbeachtung nur eines Schildes, eine erhöhte Sorgfaltspflichtverletzung zugrunde.

Für einen erhöhten Sorgfaltsverstoß und die damit einhergehende besondere individuelle Vorwerfbarkeit sprechen zunächst Sinn und Zweck der Mehrfachbeschilderung. Nach Ziffer I. zu Zeichen 274 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) v. 26. Januar 2001 sollen Geschwindigkeitsbeschränkungen aus Sicherheitsgründen angeordnet werden, wenn Unfalluntersuchungen ergeben haben, dass häufig geschwindigkeitsbedingte Unfälle aufgetreten sind. Dies gilt jedoch nur dann, wenn festgestellt worden ist, dass die geltende Höchstgeschwindigkeit von der Mehrheit der Kraftfahrer eingehalten wird. Im anderen Fall muss die geltende zulässige Höchstgeschwindigkeit durchgesetzt werden. Geschwindigkeitsbeschränkungen können sich im Einzelfall schon dann empfehlen, wenn aufgrund unangemessener Geschwindigkeiten häufig gefährliche Verkehrssituationen festgestellt werden. Außerhalb geschlossener Ortschaften sollen Geschwindigkeitsbeschränkungen nach Maßgabe der voranstehenden Erwägungen der VwV-StVO angeordnet werden, wo Fahrzeugführer insbesondere in Kurven, auf Gefällstrecken und an Stellen mit besonders unebener Fahrbahn ihre Geschwindigkeit nicht den jeweiligen Straßenverhältnissen anpassen; die zulässige Höchstgeschwindigkeit soll dann auf diejenige Geschwindigkeit festgelegt werden, die vorher von 85 % der Fahrzeugführer von sich aus ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen, ohne überwachende Polizeibeamte und ohne Behinderung durch andere Fahrzeuge eingehalten wurde.

Daraus folgt, dass ein Fahrzeugführer davon auszugehen hat, dass er sich mit seinem Fahrzeug auf einer besonders unfall- oder sonst gefahrenträchtigen Strecke befindet, wenn er ein geschwindigkeitsbeschränkendes Verkehrszeichen passiert. Der Erfolgsunwert seines Handels bzw. der Sorgfaltspflichtverstoß ist darin zu sehen, dass der Verkehrsteilnehmer, der die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs nicht reduziert, die Gefahrenwarnung des Verkehrszeichens ignoriert und deshalb nicht nur sich, sondern auch andere Verkehrsteilnehmer gefährdet. Ist eine Unfall- oder Gefahrenstelle – wie vorliegend – nicht durch ein, sondern durch mehrere, mit Abstand hintereinander aufgestellte geschwindigkeitsbeschränkende Verkehrszeichen als solche besonders kenntlich gemacht, so wird dies einen verantwortungsbewussten Verkehrsteilnehmer in besonderer Weise dazu veranlassen, vorsichtig zu fahren und sich durch einen Blick auf den Tachometer zu vergewissern, ob er die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit einhält bzw. sein Fahrverhalten entsprechend darauf einzustellen. Denn ein solcher Fahrer wird der Mehrfachfachbeschilderung die Warnung vor einer besonders gefährlichen und unfallträchtigen Stelle entnehmen. Ein Fahrer, der eine solche Beschilderungssituation ignoriert, handelt deshalb mit in zweifacher Hinsicht gesteigerter Fahrlässigkeit, denn er ignoriert nicht nur die Botschaft der besonderen Unfall- oder Gefahrenträchtigkeit, sondern dies auch nicht nur in einem kurzen Augenblick, sondern über einen längeren Zeitraum hin.

Der Sinn und Zweck der dreifach hinter einander aufgestellten Schilder ist auch im konkreten Fall darin begründet, dass unmittelbar auf die Messstelle ein Unfallschwerpunkt folgt, zu dessen Entschärfung die Geschwindigkeitsbeschränkung und die zu ihrer Überwachung aufgebaute stationäre Messanlage dienen. Ihr geht über mehrere Kilometer eine Gefällestrecke voraus, aus der die besondere Unfallgefährlichkeit des Streckenabschnitts erwächst. Dies ist dem Senat aus einer Vielzahl von diese Messstelle betreffenden Verfahren, aber auch aus eigener Anschauung bekannt.

Passiert der Betroffene, wie hier, auf einer mehrere Kilometer reichenden Gefällestrecke drei im Abstand hintereinander aufgestellte Verkehrszeichen, die er neben leicht erkennbaren Gegebenheiten wie dem Gefälle vor der Messstelle als Anhaltspunkt zur Überprüfung seiner gefahrenen Geschwindigkeit wahrnehmen muss, dann handelt er mit höherem Unwertgehalt als ein Fahrzeugführer, der lediglich ein die Höchstgeschwindigkeit anordnendes Verkehrsschild passiert, ohne seine Geschwindigkeit entsprechend anzupassen. Die Mehrfachbeschilderung in Verbindung mit der Gefällestrecke führt auch deswegen zum erhöhten Sorgfaltsverstoß, weil der betroffenen Fahrzeugführer durch das Gefälle mittels dauerhaften Betätigens der Bremseinrichtung aktiv auf die gefahrene Geschwindigkeit Einfluss nehmen muss (also nicht einfach den Fuß vom Gas nehmen kann).

Somit ist die Rechtsauffassung des Amtsgerichts Linz am Rhein nicht zu beanstanden, wonach das Fehlverhalten in vorliegendem Fall vom Regelfall nach der BKatV in einem Maße nach oben abweicht, dass es nicht mehr einem mittleren Fahrlässigkeitsgrad zuzuordnen ist, sondern in den Bereich der bewussten Fahrlässigkeit aufrückt. Die Dreifachbeschilderung und die Streckenführung stellen besondere Begleitumstände dar, welche die besondere Aufmerksamkeit des Fahrers hervorrufen müssen. Unter diesen Umständen belegt die Unkenntnis von der eigenen Geschwindigkeitsüberschreitung einen gesteigerten Sorgfaltsverstoß des Betroffenen.

In der Erhöhung des Bußgeldes aufgrund der die Geschwindigkeitsbegrenzung anordnenden, mehrfach wiederholten Beschilderung ist ein Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot nicht zu sehen (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 2 OWi 6 SsBs 30/20 v. 11.03.2020). Denn nicht ein mehrfaches Überfahren der Geschwindigkeitsbeschränkung vor der Messstelle hat das Tatgericht hier zum Anlass für die Erhöhung der Geldbuße genommen, sondern die Fehlleistung des Betroffenen, bei mehreren aufeinander folgenden Schildern die Gelegenheit sorgfaltswidrig versäumt zu haben, sein Fahrverhalten der besonderen Streckengefährlichkeit anzupassen.

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VonRA Moegelin

Haftung des Verwenders einer Kreditkarte AG Greifswald – 44 C 23/21

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Die Haftung des Verwenders einer Kreditkarte ist gemäß § 675v Abs. 2 Nr. 1 BGB vollständig ausgeschlossen.
Danach haftet der Zahler nicht nach Abs. 1, wenn es ihm nicht möglich gewesen ist, den Verlust,
den Diebstahl, das Abhandenkommen oder eine sonstige missbräuchliche Verwendung des Zahlungsinstruments
vor dem nicht autorisierten Zahlungsvorgang zu bemerken.

Volltext des Urteils des Amtsgerichts Greifswald vom 19.05.2021 – 44 C 23/21:

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung des Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Der Streitwert wird auf 889,03 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Zahlungsansprüche aus einem Zahlungsdienstevertrag.
Der Beklagte unterhielt bei der Landesbank Baden-Württemberg seit Februar 2020 ein Kreditkartenkonto (Kontonummer: ….) über eine Payback Visa-Kreditkarte. Die Beantragung der Karte erfolgt im PostIdent-Verfahren. Dabei wird die Sendung ausschließlich an den Adressaten ausgehändigt, nachdem diese sich durch Vorlage seines Personalausweises legitimiert und ein Empfangsformular unterzeichnet hat. Die übermittelte Karte, mit der bargeldlose Einkäufe, Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können und Bargeldabhebungen an Bankautomaten durchgeführt werden können, wurde bei Vertragsunternehmen der Firma VISA eingesetzt. Durch den Karteneinsatz bei den jeweiligen Vertragshändlern erteilte der Karteninhaber jeweils den Auftrag, das Vertragsunternehmen der Firma wieder zu bezahlen. Die Landesbank Baden-Württemberg erfüllte die einzelnen Aufträge. Der entstandene Saldo sollte dabei einmal monatlich durch eine der Landesbank Baden-Württemberg eingeräumte Lastschriftermächtigung ausgeglichen werden. Der entstandene Saldo in der Folgezeit wurde allerdings nie ausgeglichen. Insgesamt entstand ein Saldo in Höhe von 1277,95 €, zurückzuführen auf Zahlungsvorgänge Anfang März 2020. Die Landesbank Baden-Württemberg kündigte den Vertrag außerordentliche fristlos mit Schreiben vom 19.3.2020 und stellte den ausstehenden Saldo zuzüglich weiterer Zinsen und Kosten sofort
fällig. Auch auf eine letzte Mahnung vom 9.4.2020 leistete der Beklagte nicht. Insofern beauftragte die Landesbank Baden-Württemberg die Klägerin mit dem Inkasso der Gesamtforderung. Die Klägerin mahnte die Forderung erstmalig zum 4.5.2020 an. Im Laufe des Mai 2020 wurde eine Ratenzahlungsvereinbarung mit der Klägerin dergestalt abgeschlossen, dass monatlich 250,00 Euro zu zahlen wären. Insofern wurden am 24.6.2020 und am 15.10.2020 jeweils 250,00 Euro gezahlt. Weitere Zahlungen erfolgten nicht. Am 6.1.2020 wurde die Forderung durch die Landesbank Baden-Württemberg an die Klägerin abgetreten. Am 15. September 2020 erhielt der Beklagte ein Schreiben der SCHUFA Holding AG, in welchem die Zahlungsaufforderung vom 4.5.2020 und 12.6.2020 erwähnt wurden. Für Einzelheiten wird auf das Schreiben (Anlage B 12) verwiesen.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 889,03 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz
aus 1.277,95 Euro für den Zeitraum vom 24.04.2020 bis 24.06.2020 sowie aus 1.134,69 Euro für den Zeitraum vom 25.06.2020 bis 15.10.2020 sowie
aus 884,69 Euro seit 16.10.2020 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Beklagte behauptet, dass die von ihm beantragte Kreditkarte durch Herrn (…) aus seinem Briefkasten samt PIN-Brief entwendet wurde. Die dann erfolgten Zahlungen mithilfe der Karte wurden allesamt durch Herrn (…) ausgeführt. Dieser habe dem Beklagten weitere finanzielle Schäden zugefügt, unter anderem Mobilfunkverträge auf den Namen des Beklagten abgeschlossen. Da der Beklagte die Karte oder den PIN nie erhalten habe, sei er davon ausgegangen, dass trotz der Verifikation die Karte nicht genehmigt wurde. Die Ratenzahlungsvereinbarung sei nicht mit ihm abgeschlossen worden, die Zahlung der 2 mal 250 € habe der Beklagte ebenfalls nicht veranlasst.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Inaugenscheinnahme der durch den Beklagten eingereichten Fotos und Screenshots und Würdigung der eingereichten Dokumente als Urkunden.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch aus §§ 670, 675 Abs. 1, 675f Abs. 5 BGB nicht zu.

Der Beklagte schloss zwar unstreitig mit der Landesbank Baden-Württemberg einen Vertrag über eine Payback Visa-Kreditkarte. Ebenfalls wurden unstreitig Zahlungen mit der Kreditkarte vorgenommen, die den Saldo letztlich in Höhe von insgesamt 1277,95 Euro entstehen ließen. Der Anspruch auf Zahlung der nunmehr im Rahmen der wirksamen Abtretung nach § 389 BGB zum Rechtsinhaber gewordenen Klägerin ist aber gemäß § 675v Abs. 2 Nr. 1 BGB ausgeschlossen. Nach 675v Abs. 1 BGB hat der Zahlungsdienstleister bei nicht autorisierten Zahlungsvorgängen, die auf der Nutzung eines verloren gegangenen, gestohlenen oder sonst abhandengekommenen Zahlungsinstruments oder auf der sonstigen missbräuchlichen Verwendung eines Zahlungsinstruments beruhen, einen Anspruch in Höhe von bis zu 50 € gegen den Zahler. Das Gericht geht unter Würdigung der gesamten vorgetragenen Tatsachen, insbesondere der eingereichten Screenshots und sonstigen Dokumente, davon aus, dass die Karte durch Herrn (…) samt PIN entwendet wurde. Insbesondere die abgebildeten WhatsApp Chat-Verläufe (Anlage B4 und B7), welche das Gericht nach § 371 ZPO zu würdigen hatte, belegen eindeutig, dass die Karte durch (…)  entwendet wurde. Im Rahmen des Chat-Verlaufs gibt Herr (…) zu, die Karte entwendet zu haben und dass diese mittlerweile eingezogen wurde. Zweifel an der Echtheit dieses Chat-Verlaufs bestehen unter Zugrundelegung der restlichen eingereichten Unterlagen, insbesondere der Anlagen B1, B9 und B 10, nicht. Das Gericht geht dabei davon aus, dass sie durch die Beklagten vorgetragenen betrügerischen Handlungen des (…) sich so abgespielt haben. Insbesondere der falsche Arbeitsvertrag (Anlage B1) und das Schreiben der Telefonica Germany GmbH & Co. OHG (Anlage B9) sieht das Gericht als gewichtige Indizien dafür an, dass der Beklagte auch im Rahmen des gegenständlichen Verfahrens durch Herrn (…) geschädigt wurde.

Die Haftung des Beklagten ist auch gemäß § 675v Abs. 2 Nr. 1 BGB vollständig ausgeschlossen. Danach haftet der Zahler nicht nach Abs. 1, wenn es ihm nicht möglich gewesen ist, den Verlust, den Diebstahl, das Abhandenkommen oder eine sonstige missbräuchliche Verwendung des Zahlungsinstruments vor dem nicht autorisierten Zahlungsvorgang zu bemerken. Die Zahlungsvorgänge fanden Anfang März 2020 statt. Im Hinblick auf die Aufmerksamkeit des Zahlungdienstnutzers in Bezug auf das Zahlungsinstrument sind keine überhöhten Anforderungen zu stellen, insbesondere ist der Kartennutzer nicht verpflichtet, anlasslos den Verbleib der Karte zu überprüfen. Das Gericht geht insofern davon aus, dass Herr (…) die Kreditkarte samt PIN aus dem Briefkasten des Beklagten entwendet hat, nachdem dieser ihm gegenüber erwähnte, dass er noch auf die Zustellung einer Kreditkarte warten würde. Dies ergibt sich zum einen aus den Einlassungen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 19.05.2021 sowie aus den bereits erwähnten Anlagen B 4 und B 7. Da der Beklagte von der Entwendung nichts mitbekam, insofern davon ausging, dass die Karte ihm nie zugestellt wurde, bestanden insofern keine Pflichten, einen etwaigen Verlust der Karte nachzuprüfen und infolgedessen zu melden. Auch fanden nahezu alle Belastungen der Karte im unmittelbaren Umfeld des Wohnorts des (…) statt. Frühester Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch den Beklagten war Ende August bzw. Anfang September 2020. Eine irgendwie geartete frühzeitige Kenntnis liegt nach Auffassung des erkennenden Gerichts nicht vor. Im Rahmen des WhatsApp Chat-Verlaufs hat (…) zugegeben, die Ratenzahlungsvereinbarung selbst abgeschlossen zu haben. Aus dem Chat-Verlauf ergibt sich ebenfalls, dass das für die Ratenzahlung verwendete E-Mail Konto auf einem Handy enthalten war, welches (…) von dem Beklagten erhalten hat. Nicht maßgeblich ist, ob er dieses Handy gestohlen hat oder im Einvernehmen mit dem Beklagten erhalten hat. Jedenfalls war er nicht dazu befugt, derartige Ratenzahlungsvereinbarung abzuschließen.

Der Beklagte ist entgegen des Vortrages der Klägerin nicht gemäß § 675v Abs. 3 Nr. 2b BGB zum Ersatz des gesamten Schadens verpflichtet. Nach dieser Vorschrift ist der Zahler abweichend von den Abs. 1 und 2 zum Ersatz des gesamten Schadens verpflichtet, der infolge eines nicht autorisierten Zahlungsvorgangs entstanden ist, wenn der Zahler den Schaden herbeigeführt hat durch vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung einer oder mehrerer vereinbarter Bedingungen für die Ausgabe Nutzung des Zahlungsinstruments. Dabei sind insbesondere die in 675l Abs. 1 BGB niedergelegten Schutzpflichten, also der Schutz vor unbefugtem Zugriff auf personalisierte Sicherheitsmerkmale und die Pflicht zur Anzeige des Abhandenkommens eines Zahlungsinstrumentes sowie seiner missbräuchlichen Nutzung erfasst. Kern der Vorschrift ist dabei die Feststellung eines grob fahrlässigen Verstoßes gegen die gesetzlichen oder vertraglichen Schutzpflichten in ihren jeweiligen Ausprägungen. Grob fahrlässig ist nur Verstoß gegen die verkehrsübliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße. Die ständige Rechtsprechung legt hier einen besonders strengen Maßstab an (vgl. schon BGH NJW 2001, 286). Sie setzt eine in objektiver Hinsicht schweren und subjektiv schlechthin unentschuldbar Verstoß gegen konkrete Sorgfaltspflichten voraus. Selbst ein objektiv grober Pflichtenverstoß erlaube keinen zwingenden Schluss auf ein gesteigertes persönliches Verschulden, dass bei der Feststellung der groben Fahrlässigkeit jeweils individuell zu prüfen ist (BGH NJW 2016, 2024 Rn. 71, ZIP 2016, 757). Beweisbelastet für das Vorliegen einer derartigen groben Pflichtverletzung ist im vorliegenden Fall die Klägerin. Insofern es zwar grundsätzlich möglich, im Wege des Anscheinsbeweises von der Auslösung und Autorisierung der Zahlung auf eine Sorgfaltspflichtverletzung oder ein betrügerisches Handeln des Zahlungsdienstnutzers zu schließen. Allerdings hat der Zahlungsdienstnutzer die Möglichkeit, mit einem substantiierten und glaubhaften Vortrag über den Geschehensablauf darzulegen, dass ein Diebstahl oder eine missbräuchliche Verwendung des Zahlungsinstruments
vorgelegen habe und gegebenenfalls, wie der Dieb auf die personalisierte Sicherheitsmerkmale habe zugreifen können. Der Zahlungsdienstnutzer kann insofern den Anscheinsbeweis dadurch erschüttern, dass er Umstände darlegt und beweist, die für ein missbräuchliches Eingreifen eines
Dritten sprechen. Er genügt seiner Darlegungslast, wenn er außerhalb des Sicherungssystems liegende Indizien hierfür substantiiert darlegt (BGH ZIP 2016, 757 Rn. 48; NJW 2016, 2024). Im vorliegenden Fall hat der Beklagte – wie sich aus den bereits erfolgten Ausführungen ergibt – substantiiert
dargelegt, dass sowohl die Prepaid-Kreditkarte als auch der PIN Brief durch Herrn (…) entwendet worden. Der grundsätzliche Anscheinsbeweis wurde daher erschüttert. Weitergehende Beweise hinsichtlich einer groben Pflichtverletzung wurden durch die Klägerin
nicht benannt.

Es liegt keine Duldung des Beklagten vor. Der bloße Vortrag einer solchen Duldung der Verwendung der Kreditkarte durch Herrn (…) genügt der nunmehr auf der Klägerseite liegenden Substantiierungspflicht nicht. Eine Duldung hat grundsätzlich zumindest ein Wissenselement. Aus dem bisherigen Erläuterung des Gerichts ergibt sich jedoch, dass der Beklagte keine Kenntnis von der Zustellung der Karte und der Entwendung durch Herrn (…) hatte. Es wurden keine Tatsachen vorgetragen, die diesen Ablauf infrage stellen könnten. Dass der Beklagte die Kreditkarte tatsächlich beantragt hat, wurde während des schriftlichen Vorverfahrens unstreitig gestellt. Dieser Ablauf widerspricht aber weder dem Vortrag des Beklagten, noch erlaubt es ein Rückschluss auf die Duldung der Verwendung der Kreditkarte durch (…) oder die Verwendung der Karte durch den Beklagten selbst.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708, 711 ZPO.

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