Die Einigung in einem Vergleich über die Erstellung einer Arbeitsbescheinigung erhöht den Vergleichsmehrwert nicht, wenn zwar vorgerichtlich zur Erstellung einer Arbeitsbescheinigung aufgefordert wurde, der Anspruch des Klägers auf Erstellung der Arbeitsbescheinigung zum Zeitpunkt der Geltendmachung aber noch nicht fällig war, es sich in der Sache um einen Hilfsantrag für den Fall des Wirksamwerdens der Kündigung handelte und die Parteien den Vergleich bereits vor dem möglichen Fälligkeitszeitpunkt geschlossen haben. Es handelt sich dann um eine typische Abwicklungsregelung. Bei unmittelbar nach Geltendmachung geführten Vergleichsgesprächen kann in dieser Konstellation dem Unterbleiben der Erstellung der Arbeitsbescheinigung bis zum Abschluss des Vergleichs nicht entnommen werden, dass der Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Erstellung der Arbeitsbescheinigung nicht nachkommen wollte. Zum Vergleichsmehrwert bei Erledigung von angeblichen Zahlungsverpflichtungen im Rahmen einer Ausgleichsklausel bei gleichzeitiger Erhöhung des Abfindungsbetrages.(Leitsatz)
Volltext des Beschlusses des LArG Berlin-Brandenburg vom 28.05.2020 – 26 Ta (Kost) 6014/20:
Tenor
Auf die Beschwerde der Prozessbevollmächtigten des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. Februar 2020 – 36 Ca 14023/19 – teilweise abgeändert und ein Vergleichsmehrwert in Höhe von 13.281,42 Euro festgesetzt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Gründe
I.
1 Die Klägervertreter machen mit der Beschwerde die Festsetzung eines Vergleichsmehrwerts gelten. Die Parteien haben über die Wirksamkeit einer Kündigung gestritten.
2 Mit Schreiben vom 31. Oktober 2019 hat sich der Klägervertreter an die Beklagte gewandt und diese dazu aufgefordert, dem Kläger eine Arbeitsbescheinigung zu erstellen. Klage ist am 12. November 2019 erhoben worden. In dem Schreiben vom 31. Oktober 2019 ging es zudem um die Höhe des Urlaubsentgelts. Die Beklagte hatte bei der Berechnung des Urlaubsentgelts Provisionsleistungen nicht berücksichtigt. Außerdem ist in dem Schreiben ein Betrag in Höhe von 12.000 € für „nachlaufende“ Provisionsforderungen geltend gemacht worden.
3 Mit Schriftsatz vom 20. November 2019 teilte der Klägervertreter dem Gericht mit, dass die Parteien sich geeinigt hätten und bat um Feststellung des Vergleichsinhalts. Danach haben die Parteien sich auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem in der Kündigung vorgesehenen Beendigungszeitpunkt geeinigt. Gegenstand des Vergleichs war darüber hinaus eine Einigung über die zu zahlende Bruttovergütung in Höhe von 3.000 €. Außerdem haben die Parteien sich auf ein Zeugnis geeinigt und auf die Zahlung einer Abfindung in Höhe von 24.000 €. Weiter hat sich die Beklagte verpflichtet der Klägerin zum Beendigungstermin eine Arbeitsbescheinigung auszustellen und auszuhändigen. Schließlich sieht der Vergleich eine Ausgleichsklausel vor. Danach sollten auch „die streitigen Ansprüche auf nachlaufende Provisionszahlungen sowie auf Nachzahlung der Durchschnittsprovision für Urlaub und Krankheit“ mit erledigt sein.
4 Das Arbeitsgericht hat die Arbeitsbescheinigung und die Einigung über die nachlaufenden Provisionsbeträge sowie die Höhe des Urlaubsentgelts und die Entgeltfortzahlung im Rahmen eines Vergleichsmehrwerts nicht berücksichtigt.
5 Die Klägervertreter haben gegen den ihnen am 11. Februar 2020 zugestellten Beschluss vom 3. Februar 2020 mit einem beim Arbeitsgericht am 18. Februar 2020 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt und diese auf ihre schon zuvor vertretene Rechtsansicht gestützt. Nach Ansicht der Klägervertreter war die Forderung über die Arbeitsbescheinigung streitig. Sie müsse daher den Vergleichsmehrwert erhöhen. Gleiches gelte für die Einigung über die Provisionsbeträge und die Höhe des Urlaubsentgelts und der Entgeltfortzahlung. Die Klägerin habe in diesem Punkt nicht nachgegeben, wie die sehr hohe Abfindung zeige.
6 Das Arbeitsgericht hat der Beschwerde aus den Gründen des Beschlusses über den Streitwert nicht abgeholfen.
II.
7 Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet.
8 1) Die anwaltliche Einigungsgebühr entsteht für die Mitwirkung beim Abschluss eines Vertrags, durch den der Streit oder die Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis beseitigt wird, es sei denn, der Vertrag beschränkt sich ausschließlich auf ein Anerkenntnis oder einen Verzicht (Nr. 1000 Abs. 1 der Anlage 1 zum RVG). In den Wert eines Vergleichs sind daher die Werte aller rechtshängigen oder nichtrechtshängigen Ansprüche einzubeziehen, die zwischen den Parteien streitig oder ungewiss waren und die mit dem Vergleich geregelt wurden. Demgegenüber ist die bloße Begründung einer Leistungspflicht in dem Vergleich für den Vergleichsmehrwert ohne Bedeutung; denn es kommt für die Wertfestsetzung darauf an, worüber – und nicht worauf – die Parteien sich geeinigt haben. Auch genügt es für die Festsetzung eines Vergleichsmehrwertes nicht, dass durch den Vergleich ein Streit vermieden wurde. Ein Titulierungsinteresse kann nur dann berücksichtigt werden, wenn der geregelte Anspruch zwar unstreitig und gewiss, seine Durchsetzung aber ungewiss war (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 8. März 2017 – 17 Ta (Kost) 6013/17, Rn. 2).
9 Die Festsetzung eines Vergleichsmehrwerts ist danach nicht bereits dann gerechtfertigt, wenn die Parteien während ihrer Vergleichsverhandlungen über die gerichtlich anhängigen Gegenstände weitere Ansprüche ansprechen und auch sie eine Regelung in dem Vergleich erfahren. Zwar wird eine Einigung der Parteien häufig nur zu erreichen sein, wenn derartige Vereinbarungen getroffen werden; denn die Parteien sind nicht selten nur dann zum Abschluss eines Vergleichs bereit, wenn weitere Fragen geregelt werden und ein diesbezüglicher zukünftiger Streit vermieden wird. Die Tätigkeit des Rechtsanwalts, die zum Abschluss eines Vergleichs führt, ist jedoch mit der Einigungsgebühr als solcher abgegolten. Für die Festsetzung eines Vergleichsmehrwerts und die damit verbundene Gebührenerhöhung muss darüber hinaus festgestellt werden, dass die geregelten Gegenstände vor Abschluss des Vergleichs streitig oder ungewiss waren. Hierzu genügen weder die Vergleichsverhandlungen als solche noch Regelungen, durch die Leistungspflichten erstmals begründet oder beseitigt werden, die Rechtsverhältnisse lediglich klarstellen oder auf sonstige Weise ausschließlich einen künftigen Streit der Parteien vermeiden. Auch genügt es für die Festsetzung eines Vergleichsmehrwertes nicht, dass eine der Parteien in den Vergleichsverhandlungen Forderungen aufstellt, um dann im Wege des Nachgebens einen Vergleich zu erreichen; für einen Vergleichsmehrwert muss vielmehr der potentielle Streitgegenstand eines künftigen Verfahrens eine Regelung erfahren (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 8. März 2017 – 17 Ta (Kost) 6013/17, Rn. 3).
10 2) Danach lagen hier die Voraussetzungen für einen Vergleichsmehrwert nur in Höhe des im Tenor festgesetzten Betrages vor.
11 a) Die im Rahmen der Ausgleichsklausel formulierte Einigung, wonach auch der Anspruch auf Nachzahlung der Durchschnittsprovision für Urlaub und Krankheit und die nachlaufenden Provisionsansprüche mit abgegolten sein sollten, haben zu einer Erhöhung des Vergleichsmehrwerts um 13.281,42 Euro geführt. Nach dem Inhalt des im Beschwerdeverfahren vorgelegten Schreibens vom 31. Oktober 2019 haben die Klägervertreter entsprechende Forderungen erhoben, deren Grundlage der Arbeitsvertrag der Klägerin sein sollte. Die Klägervertreter haben zudem anwaltlich versichert, dass diese Forderungen am 7. November 2019 durch die Beklagte bestritten worden sei. Die Forderung soll im Rahmen des Vergleichs auch ihren Niederschlag gefunden haben. In diesem Zusammenhang verweisen die Klägervertreter auf den besonders hohen Vergleichsbetrag.
12 b) Die Einigung über die Arbeitsbescheinigung hat den Vergleichsmehrwert hingegen nicht erhöht. Die Klägervertreter haben die Beklagte zwar zur Erstellung einer Arbeitsbescheinigung aufgefordert. Der Vergleich enthält hierzu auch eine Regelung. Die Aufforderung zur Erstellung der Arbeitsbescheinigung kann insoweit allerdings nur als ein Erinnerungsposten angesehen werden. Der Anspruch des Klägers auf Erstellung der Arbeitsbescheinigung war zum Zeitpunkt der Geltendmachung durch die Klägervertreter noch nicht fällig. In der Sache handelte es sich um einen Hilfsantrag für den Fall des Wirksamwerdens der Kündigung. Die Parteien haben den Vergleich bereits vor dem möglichen Fälligkeitszeitpunkt geschlossen. Es handelt sich um eine typische Abwicklungsregelung. Angesichts der unmittelbar nach Geltendmachung geführten Vergleichsgespräche kann in dieser Konstellation dem Unterbleiben der Erstellung der Arbeitsbescheinigung bis zum Abschluss des Vergleichs nicht entnommen werden, dass die Beklagte ihrer dahingehenden Verpflichtung nicht nachkommen wollte.
III.
13 Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, § 33 Abs. 9 RVG. Eine Gebühr ist nicht angefallen.
Hat sich ein Schlichtungsausschuss nach § 111 Abs. 1 Satz 1 ArbGG für unzuständig erklärt, ist der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen unabhängig davon eröffnet, ob die Rechtsauffassung des Ausschusses zutrifft. Die falsche Beantwortung einer dem Bewerber um eine Ausbildungsstelle bei der Einstellung zulässigerweise gestellten Frage kann den Ausbildenden nach § 123 Abs. 1 BGB dazu berechtigen, den Ausbildungsvertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten, wenn die Täuschung für dessen Abschluss ursächlich war. Unspezifische Fragen nach Ermittlungs- und Strafverfahren jedweder Art an einen Stellenbewerber stellen sich regelmäßig als unzulässig dar, weil sie das Geheimhaltungsinteresse des Bewerbers nicht berücksichtigen. Eine Pflicht zur ungefragten Offenbarung von Umständen (hier in Gestalt schwebender Verfahren) kommt nur in Betracht, wenn die Umstände dem Bewerber die Erfüllung seiner vorgesehenen vertraglichen Leistungspflicht von vornherein unmöglich machen oder seine Eignung für den in Aussicht genommenen Arbeits- oder Ausbildungsplatz (nicht etwa allgemein für „den öffentlichen Dienst“) entscheidend berühren. (Leitsätze)
Volltext des Urteils des Arbeitsgerichts Bonn vom 20.05.2020 – 5 Ca 83/20:
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass der zwischen den Parteien bestehende Ausbildungsvertrag durch die Anfechtungserklärung der Beklagten vom 20. November 2011 nicht aufgelöst oder nichtig geworden ist.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 3.123,00 Euro festgesetzt.
1
Tatbestand
2
Der am 20. April 1994 geborene Kläger befindet sich seit dem 1. August 2018 auf der Grundlage eine schriftlichen Ausbildungsvertrags vom 24. Mai 2018 in einem Berufsausbildungsverhältnis zur Fachkraft für Lagerlogistik bei der Beklagten. Er erzielte dabei zuletzt eine monatliche Ausbildungsvergütung iHv. etwa 1.041,00 Euro. Im Rahmen dieser Tätigkeit hat er Zugriff auf verschiedene hochwertige Vermögensgüter der Beklagten.
3
Im Rahmen des Einstellungsverfahrens hatte der Kläger am 24. Mai 2018 ein „Personalblatt“ ausgefüllt, auf das Bezug genommen wird, Bl. 17 – 18 GA. In diesem heißt es ua. „Gerichtliche Verurteilungen/ schwebende Verfahren:“. Als Antwortmöglichkeiten sind ankreuzbar „Nein“ und „Ja, Grund und Aktenzeichen des Verfahrens“ angegeben. Der Kläger kreuzte „Nein“ an.
4
Dem Kläger war zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass gegen ihn ein Strafverfahren wegen Raubes anhängig war und dass die Hauptverhandlung eröffnet werden sollte. Am 4. Juli 2018 wurde der Kläger vom M. – Aktenzeichen 3. – zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das Urteil erwuchs am 20. Februar 2019 in Rechtskraft. Mit Schreiben vom 23. Mai 2019 lud die Staatsanwaltschaft C. den Kläger zum Strafantritt binnen eines Monats.
5
Im Juli 2019 trat der Kläger an seinen direkten Vorgesetzten heran und teilte diesem mit, dass er demnächst seine Haftstrafe antreten müsse und er eine von der Beklagten unterzeichnete Erklärung benötige, dass er seine Ausbildung während seines Freigangs fortführen könne.
6
Mit Schreiben vom 26. September 2019 kündigte die Beklagte das Ausbildungsverhältnis der Parteien fristlos. Am 6. November 2019 stellte der vom Kläger angerufene Schlichtungsausschuss der Industrie- und Handelskammer C. fest, dass die Kündigung der Beklagten vom 26. September 2019 rechtsunwirksam ist. Eine Anfechtung dieses Spruchs erfolgte nicht.
7
Im Rahmen eines Telefonats in der 46. Kalenderwoche 2019 teilte der Kläger der Beklagten mit, er sei nicht wegen eines Vermögensdelikts verurteilt worden. Unter dem 20. November 2019 schrieb die Beklagte dem Kläger, sie fechte den Ausbildungsvertrag vom 24. Mai 2018 wegen arglistiger Täuschung an.
8
Der Kläger rief erneut den Schlichtungsausschuss bei der Industrie- und Handelskammer C. an. Dieser teilte ihm unter dem 9. Dezember 2019 mit, die Frage der Unwirksamkeit der Anfechtung könne nicht geschlichtet werden, daher werde der Weg zum Arbeitsgericht freigegeben.
9
Der Kläger erhält zu allen für die Ausbildung relevanten Zeiten – einschließlich der Zeiten der Berufsschule – Freigang.
10
Der Kläger beantragt,
11
festzustellen, dass der zwischen den Parteien bestehende Ausbildungsvertrag durch die Anfechtungserklärung vom 20. November 2019 nicht aufgelöst bzw. nichtig geworden ist.
12
Die Beklagte beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Sie ist der Ansicht, der Kläger habe sie durch das unzutreffende Ausfüllen des Personalblatts arglistig getäuscht. Eine – sie zur Anfechtung des Ausbildungsvertrags berechtigende – arglistige Täuschung durch den Kläger liege aber auch darin, dass dieser sie nicht von sich aus auf das schwebende Verfahren hingewiesen habe. Ihn habe insoweit einer Offenbarungspflicht getroffen.
15
Hinsichtlich des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätzen und die zu den Akten gereichten Unterlagen sowie auf die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
16
Entscheidungründe
17
Die Klage ist zulässig und begründet.
18
A. Die Klage ist zulässig.
19
I. Das gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse besteht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Beklagte sich darauf beruft, der Ausbildungsvertrag zwischen den Parteien bestehe nicht bzw. nicht mehr und die mit der von ihr erklärten Anfechtung begründet (vgl. dazu, dass es für die Annahme des Feststellungsinteresses ausreicht, wenn sich der Beklagte auf das Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses beruft BAG 21. Januar 2009 – 7 AZR 843/07 – Rn. 13).
20
II. § 111 Abs. 2 Satz 5 ArbGG steht der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen. Der Kläger hat den Schlichtungsausschuss im Hinblick auf die von der Beklagten erklärte Anfechtung des Ausbildungsvertrags angerufen. Dieser hat sich für nicht zuständig erklärt. Damit ist der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen unabhängig davon eröffnet, ob die Rechtsauffassung des Ausschusses zutreffend ist (BAG 22. Februar 2018 – 6 AZR 50/17 – Rn. 10; 17. September 1987 – 2 AZR 654/86 – zu II 1 der Gründe).
21
B. Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf die begehrte Feststellung. Der Ausbildungsvertrag der Parteien vom 24. Mai 2018 ist nicht gemäß § 142 Abs. 1 BGB von Anfang an oder ab dem Zeitpunkt der Anfechtungserklärung (zur „ex-nunc“-Wirkung der Anfechtung bereits in Vollzug gesetzter Arbeitsverhältnisses vgl. BAG 12. Mai 2011 – 2 AZR 479/09 – Rn. 19) nichtig. Die Beklagte konnte ihre auf den Abschluss des Ausbildungsvertrags vom 24. Mai 2018 gerichtete Willenserklärung nicht wirksam wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB) anfechten.
22
I. Die Anfechtung des Ausbildungsvertrags wegen arglistiger Täuschung ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Beklagte – möglicherweise – den (aus ihrer Sicht gegebenen) Anfechtungsgrund zuvor als Kündigungsgrund im Sinne von § 22 Abs. 2 Nr. 1 BBiG herangezogen hat. Das Anfechtungsrecht wird nicht durch das Recht zur außerordentlichen Kündigung verdrängt. Ein und derselbe Sachverhalt kann sowohl zur Anfechtung als auch zur außerordentlichen und zur ordentlichen Kündigung berechtigen (BAG 16. Dezember 2004 – 2 AZR 148/04 – zu B II 1 a der Gründe).
23
II. Die falsche Beantwortung einer dem Arbeitnehmer bei der Einstellung zulässigerweise gestellten Frage kann den Arbeitgeber nach § 123 Abs. 1 BGB dazu berechtigen, den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung anzufechten, wenn die Täuschung für dessen Abschluss ursächlich war (BAG 20. März 2014 – 2 AZR 1071/12 – Rn. 28). Dies gilt auch für Ausbildungsverträge (BAG 23. August 2011 – 3 AZR 575/09 – Rn. 44).
24
III. Im Streitfall hat der Kläger die Beklagte nicht durch arglistige Täuschung zur Abgabe der auf den Abschluss des Ausbildungsvertrags vom 24. Mai 2018 gerichteten Willenserklärung bestimmt.
25
1. In der unzutreffenden Beantwortung der in dem von der Beklagten vorformulierten „Personalblatt“ enthaltenen Frage nach „Gerichtliche[n] Verurteilungen/ schwebende[n] Verfahren“ liegt keine arglistige Täuschung. Denn diese Frage hat die Beklagte dem Kläger nicht zulässiger Weise gestellt. Vielmehr handelt es sich um eine unzulässige Frage. Die wahrheitswidrige Beantwortung einer im Einstellungsverfahren gestellten unzulässigen Frage stellt keine arglistige Täuschung dar (vgl. nur BAG 6. September 2012 – 2 AZR 270/11 – Rn. 28).
26
a) Der Arbeitgeber darf beim Arbeitnehmer bei der Anbahnung des Arbeitsverhältnisses Informationen zu Vorstrafen einholen, wenn und soweit die Art des zu besetzenden Arbeitsplatzes dies „erfordert“, dh. bei objektiver Betrachtung berechtigt erscheinen lässt. Auch die Frage nach noch laufenden Straf- oder Ermittlungsverfahren kann – je nach den Umständen – zulässig sein (BAG 20. März 2014 – 2 AZR 1071/12 – Rn. 29).
27
b) Auch die Frage nach noch anhängigen Straf- oder Ermittlungsverfahren kann zulässig sein, wenn solche Verfahren Zweifel an der persönlichen Eignung des Arbeitnehmers begründen können. Dem steht die in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerte Unschuldsvermutung nicht entgegen. Diese bindet unmittelbar nur den Richter, der über die Begründetheit der Anklage zu entscheiden hat. Daraus ergibt sich nicht, dass aus einem anhängigen Ermittlungs- oder Strafverfahren für den Beschuldigten überhaupt keine Nachteile entstehen dürften. Eine Einschränkung des Fragerechts kann sich im Einzelfall aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Bewerbers, dem Datenschutzrecht oder – in den Fällen abgeschlossener Straf- und Ermittlungsverfahren – den Wertentscheidungen des § 53 BZRG ergeben (BAG 6. September 2012 – 2 AZR 270/11 – Rn. 24).
28
c) Ausgehend von diesen Grundsätzen stellt sich die in dem „Personalblatt“ der Beklagten gestellte Frage nach gerichtlichen Verurteilungen und schwebenden Verfahren als zu weitgehend und damit unzulässig dar.
29
aa) Fragen nach personenbezogenen Daten vor der Eingehung eines Arbeitsverhältnisses sind – wie sich aus § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG ergibt – nur dann erforderlich, wenn der künftige Arbeitgeber ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Beantwortung seiner Frage bzw. der Informationsbeschaffung im Hinblick auf die Begründung des Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses hat und das Interesse des Arbeitnehmers oder Auszubildenden an der Geheimhaltung seiner Daten das Interesse des Arbeitgebers an der Erhebung dieser Daten nicht überwiegt (vgl. BAG 15. November 2011 – 6 AZR 339/11 – Rn. 22 mwN). Bei der erforderlichen Abwägung ist Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten, soweit es um die Einstellung in den öffentlichen Dienst geht. Geeignet iSv. § 33 Abs. 2 GG ist nur, wer dem angestrebten Amt in körperlicher, psychischer und charakterlicher Hinsicht gewachsen ist. Zur Eignung gehören die Fähigkeit und innere Bereitschaft, die dienstlichen Aufgaben nach den Grundsätzen der Verfassung wahrzunehmen, insbesondere die Freiheitsrechte der Bürger zu wahren und rechts-staatliche Regeln einzuhalten (vgl. BAG 15. November 2011 – 6 AZR 339/11 – Rn. 22 mwN).
30
bb) Das Bundesarbeitsgericht hat nach diesen Grundsätzen ein berechtigtes Interesse des öffentlichen Arbeitgebers anerkannt, sich bei einem Bewerber um ein öffentliches Amt nach anhängigen Straf- und Ermittlungsverfahren zu erkundigen, wenn bereits ein solches Verfahren Zweifel an der persönlichen Eignung des Bewerbers für die in Aussicht genommene Tätigkeit begründen kann (vgl. BAG 15. November 2011 – 6 AZR 339/11 – Rn. 23 ; 27. Juli 2005 – 7 AZR 508/04 – zu I 1 b bb (1) der Gründe; 20. Mai 1999 – 2 AZR 320/98 – zu B I 1 b cc der Gründe).
31
cc) An der Informationsbeschaffung durch die unspezifizierte Frage nach Ermittlungsverfahren jedweder Art an den Stellenbewerber besteht dagegen grundsätzlich kein berechtigtes Interesse des potentiellen Arbeitgebers (vgl. zu eingestellten Ermittlungsverfahren BAG 15. November 2011 – 6 AZR 339/11 – Rn. 24). Eine solche – ohne jede gegenständliche Beschränkung gestellte – Frage nach möglichen Vorstrafen und schwebenden Verfahren jeder Art geht über das schutzwürdige Informationsinteresse des Arbeitgebers hinaus und enthebt diesen von der Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen Beantwortung (vgl. dazu BAG 6. September 2012 – 2 AZR 270/11 – Rn. 28).
32
Ob im Streitfall – wofür einiges spricht – eine konkrete Frage nach laufenden Ermittlungsverfahren wegen Vermögensdelikten zulässig gewesen wäre, bedarf keiner Entscheidung. Eine solche Frage hat die Beklagte nicht gestellt. Die von ihr per Vordruck gestellte unspezifizierte Frage nach Ermittlungsverfahren jedweder Art, die also auch etwaige Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung oder wegen (einmaligen) Fahrens ohne Fahrerlaubnis umfasst, stellt sich als zu weitgehend und damit unzulässig dar. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Kläger – zum Zeitpunkt des Ausfüllens des Personalblattes – um den Bewerber für eine Ausbildungsstelle zur Fachkraft für Lagerlogistik gehandelt hat. Für die Begründung eines solchen Rechtsverhältnisses besteht kein das Geheimhaltungsinteresse des Bewerbers überwiegendes Interesse des Arbeitgebers – auch des öffentlichen Arbeitgebers – daran, von schlechthin jeder Art denkbarer schwebender Ermittlungsverfahren Kenntnis zu erlangen. Denn nicht jede denkbare Straftat vermag Zweifel an der Eignung für die Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik zu begründen. Dies gilt auch dann, wenn die Ausbildung durch einen öffentlichen Arbeitgeber erfolgen soll.
33
2. Aus diesen Gründen stellt auch die – unabhängig von der gestellten Frage – unterbliebene Offenbarung des Klägers, dass gegen ihn ein Ermittlungs- bzw. Strafverfahren wegen eines Raubdelikts schwebt, keine arglistige Täuschung iSv. § 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB dar.
34
a) Das Verschweigen von Tatsachen, nach denen nicht gefragt wurde, stellt nur dann eine Täuschung dar, wenn hinsichtlich dieser Tatsachen eine Offenbarungspflicht besteht.
35
aa) Eine solche Pflicht ist an die Voraussetzung gebunden, dass die betreffenden Umstände entweder dem Bewerber die Erfüllung seiner vorgesehenen arbeitsvertraglichen Leistungspflicht von vornherein unmöglich machen oder doch seine Eignung für den in Aussicht genommenen Arbeitsplatz entscheidend berühren (BAG 20. März 2014 – 2 AZR 1071/12 – Rn. 30). Handelt es sich um Bewerbungen für Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, sind bei der vorzunehmenden Abwägung die Vorgaben aus Art. 33 Abs. 2 GG zu berücksichtigen. Geeignet im Sinne der Bestimmung ist nur, wer dem angestrebten Amt in körperlicher, psychischer und charakterlicher Hinsicht gewachsen ist. Zur Eignung gehören die Fähigkeit und innere Bereitschaft, die dienstlichen Aufgaben nach den Grundsätzen der Verfassung wahrzunehmen, insbesondere die Freiheitsrechte der Bürger zu wahren und rechtsstaatliche Regeln einzuhalten (BAG 20. März 2014 – 2 AZR 1071/12 – Rn. 40).
36
bb) Das im Zeitpunkt des Einstellungsverfahrens schwebende Straf- bzw. Ermittlungsverfahren wie auch eine etwaige Verurteilung machten es dem Kläger nicht von vornherein unmöglich, eine Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik tatsächlich zu absolvieren. Selbst die Strafhaft, zu welcher der Kläger während des Einstellungsverfahrens noch nicht verurteilt war, steht dem wegen der Möglichkeit, die Ausbildung als Freigänger zu absolvieren, nicht entgegen. Auch unter Berücksichtigung der Eignungsanforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG wurde die Eignung des Klägers für einen Ausbildungsplatz zur Fachkraft für Lagerlogistik durch das seinerzeit schwebende Verfahren nicht entscheidend beeinträchtigt. Insoweit ist nochmals darauf hinzuweisen, dass an dieser Stelle nicht auf eine generelle Eignung für „den öffentlichen Dienst“ abgestellt werden darf, sondern auf die Eignung für „den in Aussicht genommenen Arbeitsplatz“ (BAG 20. März 2014 – 2 AZR 1071/12 – Rn. 30; dies gilt auch für Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, vgl. insoweit die Prüfung durch BAG 27. Juli 2005 – 7 AZR 508/04 – zu I 1 b bb (1) der Gründe). Allein die Tatsache, dass der Kläger im Rahmen der Ausbildung Zugriff auf hochwertige Vermögensgegenstände der Beklagten erlangen würde, vermag eine solche entscheidende Beeinträchtigung nicht zu begründen. Denn nahezu jeder Arbeitnehmer und Auszubildende erhält – wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise (und sei es durch die Aushändigung von Schlüsseln oder der Einräumung sonstiger Zutrittsmöglichkeiten) – Zugriff auf hochwertige Vermögensgegenstände des Arbeitgebers oder Ausbildenden.
37
b) Jedenfalls aber würde sich die – unabhängig von einer gestellten Frage – unterbliebene Offenbarung des Klägers, dass gegen ihn ein Ermittlungs- bzw. Strafverfahren wegen eines Raubdelikts schwebt, wollte man sie als Täuschung durch Unterlassen ansehen, nicht als arglistig iSv. § 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB darstellen.
38
aa) Arglistig ist die Täuschung, wenn der Täuschende weiß oder billigend in Kauf nimmt, dass seine Behauptungen nicht der Wahrheit entsprechen und deshalb oder mangels Offenbarung bestimmter Tatsachen irrige Vorstellungen beim (künftigen) Arbeitgeber entstehen oder aufrechterhalten werden. Fahrlässigkeit – auch grobe Fahrlässigkeit – genügt insoweit nicht. Die Beweislast für das Vorliegen von Arglist trägt der Arbeitgeber. Dass es sich hierbei um eine innere Tatsache handelt, steht dem nicht entgegen (BAG 20. März 2014 – 2 AZR 1071/12 – Rn. 31).
39
bb) Dass der Kläger gewusst oder billigend in Kauf genommen hat, durch das bloße Verschweigen des gegen ihn schwebenden Verfahrens – nicht das falsche Ausfüllen des Personalblatts – irrige Vorstellungen beim der Beklagten entstehen zu lassen oder aufrechtzuerhalten, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Insoweit hätte der Kläger bereits während des Einstellungsverfahrens diejenigen Tatsachen erkannt haben müssen, die dazu führen, dass das schwebende Strafverfahren oder jedenfalls eine Verurteilung wegen eines Raubdelikts seine Eignung für den avisierten Ausbildungsplatz als Fachkraft für Lagerlogistik entscheidend berührt. Er hätte also die von der Beklagten angeführten tatsächlichen Umstände, etwa die Tatsache, dass er während der Ausbildung Zugriff auf hochwertige Vermögensgegenstände der Beklagten erlangen würde, positiv gewusst haben müssen. Ein etwaiges Wissenmüssen wäre nicht ausreichend, weil selbst grobe Fahrlässigkeit keine Arglist begründen kann (BAG 20. März 2014 – 2 AZR 1071/12 – Rn. 31).
40
C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG iVm. § 495, § 91 Abs. 1 Satz 1, 1. Hs. ZPO. Als unterlegene Partei hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Festsetzung des Streitwerts im Urteil erfolgte gemäß § 61 Abs. 1, § 46 Abs. 2 ArbGG, § 3 ZPO. Dabei wurde im Hinblick auf die Höhe die in § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertentscheidung berücksichtigt.
Zur Klärung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem eine volle Erwerbsminderung im Verlauf des Urlaubsjahres eingetreten ist, 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen kann, hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet.*
Der als schwerbehinderter Mensch anerkannte Kläger ist seit dem Jahr 2000 als Frachtfahrer bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. Dezember 2014 bezieht er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, die zuletzt bis August 2019 verlängert wurde. Er hat ua. geltend gemacht, ihm stünden gegen die Beklagte noch 34 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2014 zu. Diese Ansprüche seien nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei. Die Beklagte hat demgegenüber die Auffassung vertreten, der im Jahr 2014 nicht genommene Urlaub des Klägers sei mit Ablauf des 31. März 2016 erloschen. Sei der Arbeitnehmer – wie vorliegend der Kläger aufgrund der vollen Erwerbsminderung – aus gesundheitlichen Gründen langandauernd außerstande, seinen Urlaub anzutreten, trete der Verfall 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres unabhängig von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten ein.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Für die Entscheidung, ob der Urlaub des Klägers aus dem Jahr 2014 am 31. März 2016 oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen ist, kommt es für den Neunten Senat auf die Auslegung von Unionsrecht an, die dem Gerichtshof der Europäischen Union vorbehalten ist.
Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf die ersten drei Monate des folgenden Kalenderjahres ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Diese Bestimmung hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts verschiedentlich unionsrechtskonform ausgelegt.
Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. November 2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) zu Art. 7 RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat der Neunte Senat erkannt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann nach § 7 Abs. 3 BUrlG am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Ãœbertragungszeitraums erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, und ihn darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 9/19 vom 19. Februar 2019).
Für den Fall, dass der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war, versteht der Neunte Senat § 7 Abs. 3 BUrlG nach Maßgabe der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. November 2011 (- C-214/10 – [KHS]) außerdem dahin, dass gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (vgl. dazu Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 56/12 vom 7. August 2012).
Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es nunmehr einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung zumindest teilweise hätte nehmen können.
(Vgl. Pressemitteilung Nr. 21/20 des BAG)
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 7. Juli 2020 – 9 AZR 245/19 (A) –
Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 7. März 2019 – 9 Sa 145/17 –
Außerhalb einer etwaigen Kernarbeitszeit ist die Arbeitsbefreiung nicht iSv. § 29 Abs. 1 f TV-Forst vorgeschrieben. Dem Arbeitgeber steht während des Gleitzeitrahmens grundsätzlich kein Direktionsrecht über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers zu, soweit er es sich nicht für bestimmte Fälle vorbehalten hat. Damit ist es dem Arbeitgeber letztlich unmöglich, außerhalb solcher besonders geregelter Konstellationen den Arbeitnehmer während der Gleitzeit von der Arbeitspflicht zu befreien (vgl. BAG 22. Januar 2009 – 6 AZR 78/08, Rn. 19; 16. Dezember 1993 – 6 AZR 236/93 – BAGE 75, 231, 234, zur Freistellungsregelung in § 52 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BAT in der bis zum 30. Juni 1996 geltenden Fassung). (Leitsatz)
Volltext des Urteils des LAG Berlin-Brandenburg vom 06.02.2020 – 26 Sa 1122/19:
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Potsdam vom 27.03.2019 – 4 Ca 9/19 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten darüber, ob dem Arbeitszeitkonto des Klägers zehn Stunden gutzuschreiben sind, die er für Physiotherapiesitzungen aufgewandt hat.
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Der Kläger ist bei dem beklagten Land als Forstwirtschaftsmeister/Ausbilder beschäftigt. Er ist ua. für die Anleitung von Auszubildenden zuständig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Tarifvertrag zur Regelung der Arbeitsbedingungen von Beschäftigten in forstwirtschaftlichen Verwaltungen, Einrichtungen und Betrieben der Länder (TV-Forst) Anwendung.
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Nach der in der Dienststelle des Klägers geltenden Dienstvereinbarung können die Belegschaftsmitglieder Beginn und Ende ihrer täglichen Arbeitszeit von Montag bis Freitag jeweils von 6:00 Uhr bis 20:00 Uhr weitgehend selbst bestimmen, soweit dringende betriebliche und dienstliche Notwendigkeiten dem nicht entgegenstehen. Die Ausbildung für die Auszubildenden erfolgt von 7:00 Uhr bis 15:45 Uhr.
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Der den Kläger behandelnde Arzt verordnete ihm im Oktober 2018 Physiotherapiesitzungen. Die Behandlungen fanden an fünf Tagen statt. Der Kläger war aus diesem Grund in der Zeit in den frühen Nachmittagsstunden unterwegs. Insgesamt hat der Kläger einschließlich der Wegezeiten an fünf Tagen 10:01 Stunden benötigt.
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Vom 15. bis zum 26. Oktober 2018 war allein der Kläger für die Anleitung und Betreuung der Auszubildenden zuständig, da andere Ausbilder verhindert waren.
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Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Abwesenheitszeiten für die physiotherapeutische Behandlung sei als Arbeitszeit zu berücksichtigen. Zeiten ärztlich verordneter Behandlungen zählten nach § 29 TV-Forst als Zeiten, zu denen das Entgelt bei Freistellung von der Arbeit fortzuzahlen sei. Da er als Ausbilder beschäftigt sei, sei es ihm nicht möglich, seine Arbeitszeit frei einzuteilen. Er müsse seine Arbeit zwingend während der Unterrichtzeiten ausüben. Es sei ihm auch nicht möglich gewesen, bei der Physiotherapiepraxis Behandlungstermine außerhalb der Unterrichtszeiten zu erhalten.
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Der Kläger hat beantragt,
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das beklagte Land zu verurteilen, seinem Arbeitszeitkonto 10:01 Stunden gutzuschreiben.
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Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Mangels Kernarbeitszeit sei der Kläger gehalten gewesen, die Physiotherapietermine außerhalb der Arbeitszeit wahrzunehmen. Das sei auch möglich gewesen. Zudem habe der Kläger seine Freistellungsanträge auch immer erst am Tag der Terminswahrnehmung gestellt, weshalb eine Prüfung zuvor nicht möglich gewesen sei. Außerdem habe der Kläger durch sein Vorgehen selbst deutlich gemacht, dass er während der Ausbildungszeit nicht zwingend habe anwesend sein müssen.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und das im Wesentlichen damit begründet, dass es sich bei den Zeiten der physiotherapeutischen Behandlung bzw. der darauf basierenden Abwesenheit von der Arbeit gerade nicht um Arbeitszeit gehandelt habe. Zwar behalte der Arbeitnehmer nach § 29 TV-Forst, § 616 BGB den Anspruch auf das Entgelt, wenn er verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Erbringung der Arbeitsleistung verhindert gewesen ist. Voraussetzung sei aber in jedem Fall, dass eine ärztliche Behandlung bzw. die gleichgestellte verordnete Behandlung innerhalb der Arbeitszeit erfolgen müsse. Hier fehle es bereits an dieser Voraussetzung, da die physiotherapeutische Behandlung nicht während der Arbeitszeit des Klägers habe erfolgen müssen. Mangels Kernarbeitszeit hätte er die Arbeit außerhalb der Therapiebesuchszeit erbringen können. Der Kläger habe selbst nicht vorgetragen, dass es eine Weisung des beklagten Landes gebe, wonach er entgegen der Dienstvereinbarung zur Arbeitszeit die Arbeit in jedem Fall in einem bestimmten Zeitrahmen zu erbringen habe. So habe er ja auch die Ausbildung derart sichergestellt, dass er nicht habe anwesend sein müssen.
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Der Kläger hat gegen das ihm am 9. Mai 2019 zugestellte Urteil am 7. Juni 2019 Berufung eingelegt und diese – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 9. August 2019 – mit einem am 8. August 2019 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. Zur Begründung wiederholte er unter Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung im Wesentlichen die bereits erstinstanzlich vertretenen Rechtsansichten. Er habe eine zwingende Notwendigkeit vorgelegen, die eigene Arbeitszeit den Anwesenheitszeiten der Auszubildenden im Betrieb anzupassen. Darin sei eine dringende betriebliche und dienstliche Notwendigkeit zu sehen. Bei der Beschäftigung der Auszubildenden mit gefährlichen Arbeiten sei die Anleitung durch eine fachkundige Person vorzunehmen, wobei die Auszubildenden auch beaufsichtigt werden müssten. Der Ausbildungsbetrieb müsse durch geeignete Person sichergestellt sein. Aus diesem Grund habe er als einzige Person, die in der maßgeblichen Zeit zur Ausbildung berechtigt gewesen sei, seine Arbeitszeiten den Anwesenheitszeiten der Auszubildenden anpassen müssen. Andernfalls wäre gegen arbeitsschutzrechtliche Vorschriften verstoßen worden. Einer konkreten Weisung des Arbeitgebers habe es insoweit nicht bedurft. Entgegen der Darstellung des beklagten Landes habe er auf die Termine auch rechtzeitig hingewiesen.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Potsdam vom 27. März 2019 – 4 Ca 9/19 – abzuändern und das beklagte Land zu verurteilen, seinem Arbeitszeitkonto zehn Stunden gutzuschreiben.
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Das beklagte Land beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Auch das beklagte Land wiederholt im Wesentlichen seinen erstinstanzlichen Vortrag. Der Kläger hätte während der Abwesenheitszeiten vertreten werden können. Er habe selbst durch seine Abwesenheit während der Therapiesitzungen gezeigt, dass eine ständige Anwesenheit innerhalb der täglichen Ausbildungszeit gerade nicht erforderlich sei.
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Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Parteien vom 7. August und vom 20. November 2019.
Entscheidungsgründe
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I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.
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II. Die Berufung ist aber unbegründet, da die Klage unbegründet ist. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zeitgutschrift. Der Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus § 29 TV-Forst iVm. § 616 BGB. Das Arbeitsgericht ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen des § 29 TV-Forst hier nicht erfüllt sind.
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1) Dem Anspruch des Klägers steht nicht entgegen, dass § 29 TV-Forst einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung regelt, der Kläger dagegen eine Zeitgutschrift auf seinem Arbeitszeitkonto begehrt. Das Arbeitszeitkonto drückt nur in anderer Form den Vergütungsanspruch aus (vgl. BAG 22. Januar 2009 – 6 AZR 78/080, Rn. 15).
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2) Gem. § 29 TV-Forst gelten bestimmte enumerativ aufgeführte Anlässe als Fälle nach § 616 BGB, in denen Beschäftigte unter Fortzahlung des Entgelts in dem angegebenen Ausmaß von der Arbeit freigestellt werden. Darunter fällt ua. die ärztliche Behandlung von Beschäftigten, wenn diese während der Arbeitszeit erfolgen muss. Nach einer Niederschrift zu der Vorschrift ist davon auch eine ärztlich verordnete Behandlung erfasst.
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3) Danach hatte der Kläger für die anlässlich der Physiotherapiestunden aufgewendete Zeit keinen Anspruch auf Freistellung unter Fortzahlung des Entgelts. Ein Anspruch aus § 29 Abs. 2 Satz 1 TV-Forst besteht bereits deshalb nicht, weil die Besuche bei der Physiotherapie während der Gleitzeit und damit „außerhalb der Arbeitszeit“ iSv. § 29 Abs. 1 f TV-Forst durchgeführt wurde. Die physiotherapeutische Behandlung musste nicht während der Arbeitszeit erfolgen.
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a) § 29 Abs. 1 f TV-Forst verlangt von den im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmern, ihre privaten Angelegenheiten soweit wie möglich außerhalb der Arbeitszeit zu erfüllen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Tarifnorm. Danach erfolgt eine Befreiung nur dann, wenn die Behandlung während der Arbeitszeit erfolgen „muss“. Das ist nicht der Fall, wenn ein Arbeitnehmer in der Lage ist, seine Arbeitszeit frei zu gestalten, wie das bei umfassenden Gleitzeitregelungen regelmäßig der Fall ist.
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Außerhalb einer etwaigen Kernarbeitszeit ist die Arbeitsbefreiung nicht iSv. § 29 Abs. 1 f TV-Forst vorgeschrieben. Zwar bleibt der Arbeitnehmer auch während der Gleitzeit insoweit zur Arbeitsleistung verpflichtet, dass er die Zahl der im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit für die Woche festgesetzten Arbeitsstunden erreichen muss. Insoweit ist jedoch nur der Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung festgelegt. Die zeitliche Lage der Arbeitszeit bestimmt der Arbeitnehmer selbst. Die Regelung über die gleitende Arbeitszeit verfolgt, soweit sie nicht eine Kernarbeitszeit betrifft, den Zweck, innerhalb der in der Dienstvereinbarung festgelegten Gleitzeit dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, die zeitliche Lage der Arbeitsleistung in freier Selbstbestimmung nach seinen Bedürfnissen und Wünschen festzulegen. Solche Arbeitszeitmodelle weiten die Zeitsouveränität des Arbeitnehmers erheblich aus. Dem Arbeitgeber steht somit während des Gleitzeitrahmens grundsätzlich kein Direktionsrecht über die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers zu, soweit er es sich nicht für bestimmte Fälle vorbehalten hat. Damit ist es dem Arbeitgeber letztlich unmöglich, außerhalb solcher besonders geregelter Konstellationen den Arbeitnehmer während der Gleitzeit von der Arbeitspflicht zu befreien (vgl. BAG 22. Januar 2009 – 6 AZR 78/08, Rn. 19; 16. Dezember 1993 – 6 AZR 236/93 – BAGE 75, 231, 234, zur Freistellungsregelung in § 52 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BAT in der bis zum 30. Juni 1996 geltenden Fassung).
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b) Danach fehlte es hier an einem Anspruch auf Befreiung von der Arbeitspflicht. Eine solche Befreiung wäre nach dem unter a) Ausgeführten gar nicht möglich gewesen. Eine besondere Konstellation, für die sich der Arbeitgeber das Direktionsrecht vorbehalten hätte, liegt hier nicht vor. Insbesondere waren entgegenstehende dringende betriebliche Gründe iSd. § 4 Abs. 1 Satz 1 der Dienstvereinbarung zur Regelung der Arbeitszeit nicht gegeben, welche die Anwesenheit des Klägers zu den für die physiotherapeutische Behandlung aufgewendeten Zeiten erforderlich gemacht hätten. Der Kläger konnte an den maßgeblichen Tagen die Ausbildung nach seinem eigenen Bekunden ohne Verstoß gegen Arbeitsschutzvorschriften so gestalten, dass er abkömmlich war. Die Behandlung musste also gerade nicht „während der Arbeitszeit“ stattfinden.
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III. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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IV. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.