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VonRA Moegelin

Benachteiligung im Bewerbungsverfahren wegen der Schwerbehinderung

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Besteht die Vermutung einer Benachteiligung im Bewerbungsverfahren wegen der Schwerbehinderung, trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe oder die Schwerbehinderung zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben. Der Arbeitgeber kann die Vermutung grundsätzlich dadurch widerlegen, dass er substantiiert dazu vorträgt und im Bestreitensfall beweist, dass er bei der Behandlung aller Bewerbungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen ist, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. der Schwerbehinderung ausschließt. Die Kausalitätsvermutung kann im Einzelfall nach § 22 AGG widerlegt sein, wenn der Arbeitgeber darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass der erfolglose Bewerber eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit oder den Beruf an sich ist.

Volltext des Urteils des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 13.08.2025 – 13 Ca 2388/25:

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 10.625,00 € zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger zu 72 % und die Beklagte zu 28 %.
4. Der Streitwert beträgt 37.500,00 €.
5. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

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Tatbestand
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Der Kläger verlangt von der Beklagten eine Entschädigung aufgrund einer Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung im Bewerbungsverfahren.
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Der am 03.06.1975 geborene Kläger ist mit einem Grad der Behinderung von 90 schwerbehindert und gehört zu den nach § 155 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d SGB IX im Arbeitsleben besonders betroffenen Menschen. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft und promovierte im rechtswissenschaftlichen Bereich. Er arbeitete ua. als Rechtsanwalt und bei der K., gründete Startup-Unternehmen in den USA und Deutschland und verkaufte sie. Zuletzt war er bei der O. im Bereich Devices & Partnering der Chief Innovation Evangelist tätig.
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Im Geschäftsbericht für das Jahr 2024 führte die Beklagte aus, dass die Zahl der Mitarbeitenden im Jahresdurchschnitt 3.625 Personen betragen habe, von denen 1.383 auf die Hauptverwaltung in R. und 1.881 auf die internationalen Niederlassungen entfallen seien. Bei der Beklagten bestehen ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung. Frau N. ist die Schwerbehindertenbeauftragte und stellvertretende Vorsitzende des Betriebsrats. Der Betriebsrat bat die Beklagte darum, Unterlagen bezüglich der Bewerbungen schwerbehinderter Menschen nicht dem Vorsitzenden, sondern Frau N. zuzusenden.
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Bei der Beklagten sollte unter der internen Stellennummer 2024-195 die Stelle „Abteilungsreferent Digitalisierung & Automatisierung“ geschaffen werden. Ausweislich der internen Personalanforderung vom 19.06.2024 sollte es sich nicht um eine Abteilungsleiterposition handeln. Der Einstellungstermin sollte der 01.08.2024 sein und die Gesamtvergütung 85.000,00 € betragen (vgl. Anlage X. zum Schriftsatz der Beklagten vom 27.06.2025).
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Die Beklagte führte das Stellenbesetzungsverfahren für die Stelle „Abteilungsleiter Digitalisierung & Automatisierung“ unter der internen Stellennummer 2024-195 (vgl. Anlage M. zum Schriftsatz der Beklagten vom 05.08.2025). Der zuständige Sachbearbeiter bei der Beklagten setzte nicht das erforderliche Häkchen, um einen Vermittlungsauftrag an die Bundesagentur für Arbeit zu erteilen.
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Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlichte die Stellenanzeige über die Jobbörse. Die Beklagte schrieb die Stelle „Abteilungsleiter Digitalisierung & Automatisierung“ aus (vgl. Anlage K1 zur Klageschrift vom 05.05.2025). in der Ausschreibung hieß es auszugsweise:
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„Das bringst du mit
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Du bringst mehrjährige, fundierte Berufs- und gerne auch Führungserfahrung mit
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Dein wirtschaftliches oder IT-Studium hast du erfolgreich abgeschlossen
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Du liebst es, ins Detail zu gehen und tiefer in Optimierungsprozesse einzutauchen
13

Im Umgang mit Kolleg*innen und Mitarbeitenden überzeugst du durch Empathie, Verständnis und eine bereichsübergreifende Kooperationsbereitschaft
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Du kennst dein Team gut und findest die ideale Balance zwischen Freiraum, gezielter Unterstützung und der Förderung von Weiterentwicklung
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Herausforderungen motivieren dich: Ein „das geht gerade nicht“ treibt dich an, und ein „nein“ ist für dich ein Grund, genauer nachzufragen“

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Der Kläger bewarb sich am 12.02.2025 auf die ausgeschriebene Stelle. In seiner Bewerbung gab er seine Schwerbehinderung an. Am 26.02.2025 forderte die Beklagte bei dem Kläger eine Angabe zu seinen Gehaltsvorstellungen an.
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Die Beklagte beabsichtigte, das Bewerbungsverfahren mit dem Kläger zu beenden. Mit E-Mail vom 05.03.2025 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie seine Bewerbung nicht weiter berücksichtigen könne (vgl. Anlage K4 zur Klageschrift vom 05.05.2025).
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Die Beklagte lehnte auch die weiteren 518 Bewerber auf die Stelle aus unterschiedlichen Gründen ab. Sie entschied am 20.03.2025, bis auf Weiteres keinen Abteilungsleiter Digitalisierung & Automatisierung einzustellen.
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Mit Schreiben vom 31.03.2025 forderte der Kläger die Beklagte auf, ihm eine Entschädigung iHv. 37.500,00 € als Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen, weil sie Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen nicht eingehalten habe (vgl. Anlage K5 zur Klageschrift vom 05.05.2025).
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Der Kläger behauptet, dass zwischen der Beklagten, dem Betriebsrat und der Schwerbehindertenvertretung kein Einvernehmen bestanden habe, dass grundsätzlich alle Stellen auch für schwerbehinderte Bewerber geeignet seien. Die Beklagte habe keine konkrete Prüfung durchgeführt. Sie habe die Stellenanzeige nicht am 10.02.2025 an die Bundesagentur für Arbeit übermittelt. Der zuständige Sachbearbeiter habe das erforderliche Häkchen nicht nur aus bloßer Unachtsamkeit nicht gesetzt. Es sei nicht von einem einmaligen Versehen auszugehen. Die Beklagte habe die Bewerbung nicht durch die vorgelegte E-Mail vom 12.02.2025 an Frau N. weitergeleitet (vgl. Anlage G. zum Schriftsatz der Beklagten vom 27.06.2025). Frau N. habe nicht gleichzeitig als Empfangsvertreterin des Betriebsrats fungiert. Es habe keine eingehende Prüfung der Bewerbungsunterlagen des Klägers stattgefunden. Die Beklagte habe Software mit Künstlicher Intelligenz bei der Bewertung seiner Bewerbung eingesetzt. Beim Einsatz eines derartigen Modells sei eine Diskriminierung systemimmanent, weil das System seine Schwerbehinderung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erkannt habe. Die Beklagte habe Frau N. nicht mit E-Mail vom 05.03.2025 zu der beabsichtigten Absage angehört. Frau N. habe daraufhin nicht keine Bedenken geäußert. Die Beklagte habe den Betriebsrat nicht angehört, insbesondere nicht durch die vorgelegte E-Mail an Frau N. am 05.03.2025, die ausweislich der Anrede nur an die Schwerbehindertenvertretung gerichtet sei (vgl. Anlage H. zum Schriftsatz der Beklagten vom 27.06.2025). Die Beklagte erfülle die Beschäftigungspflicht nach § 154 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht. Es sei unzutreffend, dass sie nur 1.353 Personen beschäftige, von denen 69 schwerbehindert oder gleichgestellt seien. Bei der ausgeschriebenen Stelle handele es sich nicht um die Referentenstelle, auf die sich die Personalanforderung vom 19.06.2024 beziehe. Für die Abteilungsleiterstelle sei von einem Bruttomonatsgehalt iHv. 15.000,00 € auszugehen.
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Der Kläger ist der Ansicht, dass eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung bereits dadurch indiziert sei, dass die Beklagte nicht konkret geprüft habe, ob die Stelle mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden könne. Selbst bei einem Handeln aus Unachtsamkeit bei der Nichterteilung des Vermittlungsauftrags liege ein Indiz für eine Benachteiligung vor. Es genüge nicht, wenn die Beklagte nur Frau N. eingebunden habe. Der Betriebsrat dürfe die Angelegenheit schwerbehinderter Bewerber nicht an Frau N. delegieren. Die Beklagte hätte den Betriebsrat separat beteiligen müssen.
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Der Kläger beantragt mit seiner der Beklagten am 08.05.2025 zugestellten Klageschrift,
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die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger eine Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch mindestens 37.500,00 € betragen sollte, nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte behauptet, dass der Kläger nicht geeignet sei, um die ausgeschriebene Stelle zu besetzen, weil er nicht über die nötige Erfahrung zum Management kontinuierlicher Verbesserungsprozesse verfüge. Sie ist der Ansicht, dass der Kläger nicht benachteiligt worden sei, weil sie die Stelle nicht besetzt habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten im Vorbringen der Parteien wird ergänzend auf die zur Akte gereichten Schriftsätze nebst deren Anlagen sowie die Terminsprotokolle Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, deren Höhe die Kammer mit 10.625,00 € bemessen hat.
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A. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG sind erfüllt.
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I. Der persönliche Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist eröffnet. Der Kläger ist formal Bewerber iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG, weil er eine Bewerbung eingereicht hat (BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 12; 25.11.2021 – 8 AZR 313/20 – Rn. 16). Die Beklagte ist Arbeitgeberin iSv. § 6 Abs. 2 AGG.
32

II. Der Kläger hat die nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG und § 61b Abs. 1 ArbGG zu wahrenden Fristen eingehalten. Der Kläger hat ausgehend vom frühestmöglichen Zeitpunkt, dem Zugang der Ablehnung am 05.03.2025, den Anspruch auf Entschädigung mit Schreiben vom 31.03.2025 innerhalb der Frist von zwei Monaten nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG schriftlich geltend gemacht. Anschließend hat er gemäß § 61b Abs. 1 ArbGG innerhalb von drei Monaten nach der Geltendmachung am 08.05.2025 die Klage auf Entschädigung erhoben.
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III. Eine Benachteiligung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung liegt vor.
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1. Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGB IX die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 15; 23.11.2023 – 8 AZR 212/22 – Rn. 22).
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2. Der Kläger wurde dadurch unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt, dass er von der Beklagten für die ausgeschriebene Stelle nicht berücksichtigt wurde, denn er hat eine weniger günstige Behandlung erfahren als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Darauf, ob es überhaupt andere Bewerberinnen und Bewerber gegeben hat, ob deren Bewerbungen Erfolg hatten und ob sie die Stelle angetreten haben, kommt es nicht an (vgl. BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 16; 23.11.2023 – 8 AZR 212/22 – Rn. 23).
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3. Der Kläger hat ein hinreichendes Indiz iSv. § 22 AGG vorgetragen, das eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung vermuten lässt.
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a) Die Beklagte hat mit der Agentur für Arbeit nicht ordnungsgemäß iSv. § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX Verbindung aufgenommen. Es fehlt an der Erteilung eines Vermittlungsauftrags.
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aa) Das spezielle Benachteiligungsverbot des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verbietet eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Zwischen der Benachteiligung und der Schwerbehinderung muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen (BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 18; 25.04.2024 – 8 AZR 143/23 – Rn. 25).
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bb) Grundsätzlich trägt die Person, die einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend macht, die Darlegungslast für das Vorliegen seiner Voraussetzungen. § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang jedoch eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. der Schwerbehinderung vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Es bedarf des Vortrags von Indizien, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. der Schwerbehinderung erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 19; 25.01.2024 – 8 AZR 318/22 – Rn. 10).
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cc) Es liegt ein Verstoß gegen § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX mit der Folge vor, dass die Vermutungswirkung nach § 22 AGG eingreift.
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(1) Arbeitgeber sind nach § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitsuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden können. Sie nehmen nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit auf. Die Bundesagentur für Arbeit oder ein Integrationsfachdienst schlägt den Arbeitgebern geeignete schwerbehinderte Menschen vor (§ 164 Abs. 1 Satz 3 SGB IX).
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(2) Ein Verstoß gegen § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX kann die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung iSv. § 22 AGG begründen (BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 22: so bereits zu § 81 Abs. 1 Satz 2 SGB IX aF BAG 13.10.2011 – 8 AZR 608/10 – Rn. 45). Dies entspricht dem Grundsatz, nach dem bei schwerbehinderten Menschen und diesen gleichgestellten behinderten Menschen der Verstoß des Arbeitgebers gegen Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung iSv. § 22 AGG begründet (BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 22; 25.04.2024 – 8 AZR 143/23 – Rn. 26). Auf die Schwere des Verschuldens kommt es dabei nicht an. Werden die Verfahrens- und Förderpflichten nicht eingehalten, ist dies ein Anzeichen dafür, dass sich der Arbeitgeber nicht hinreichend um die Befolgung gekümmert hat und insbesondere seine Mitarbeiter nicht genügend geschult hat.
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(3) Die Beklagte hat gegen § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX verstoßen. Sie hat bei der Übermittlung der Stellenanzeige an die Bundesagentur für Arbeit am 10.02.2025 nicht das Häkchen gesetzt, um einen Vermittlungsauftrag zu erteilen.
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b) Weitere Indizien waren nicht zu berücksichtigen.
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aa) Die Beklagte musste den Behauptungen des Klägers, die Beklagte habe ihre Prüfpflicht nach § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht erfüllt, habe seine Bewerbungsunterlagen nicht geprüft und habe Künstliche Intelligenz im Bewerbungsverfahren eingesetzt, nicht nachgehen. Diese Einwände gegen das Vorgehen der Beklagten sind nicht geeignet, eine Benachteiligung zu indizieren.
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(1) Gemäß § 164 Abs. 1 Satz 1 und 6 SGB IX müssen Arbeitgeber unter Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung und Anhörung des Betriebsrats prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden können. Eine Verletzung dieser Pflicht lässt nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass eine Benachteiligung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung erfolgt ist. Sie erweckt nicht den Anschein, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein. Denn der Kläger ist nicht von dem Bewerbungsverfahren ausgeschlossen, sondern in dieses einbezogen worden (vgl. LAG Düsseldorf 25.10.2024 – 10 Sa 177/23 – zu II 1 c cc (2) (a) der Gründe).
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(2) Es war nicht zu untersuchen, wie eingehend die Beklagte die Bewerbungsunterlagen des Klägers geprüft hat. Die Verfahrens- und Förderpflichten in § 164 Abs. 1 SGB IX verlangen vom Arbeitgeber nicht eine bestimmte Prüfungstiefe oder -zeit. Es kommt allein darauf an, dass die Schwerbehindertenvertretung und der Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt worden sind, § 164 Abs. 1 Satz 6 SGB IX. Allein aus einer schnellen Entscheidung ist keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür abzuleiten, dass eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung erfolgt ist.
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(3) Es ist unerheblich, ob die Beklagte bei der Prüfung der Bewerbung Künstliche Intelligenz eingesetzt hat. Es ist nicht ersichtlich, dass bei einem Einsatz von Künstlicher Intelligenz mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Entscheidungen getroffen werden, die schwerbehinderte Personen benachteiligen. Dies gilt erst recht in dem Fall, in dem die Künstliche Intelligenz die Schwerbehinderung nicht erkannt hat, wovon der Kläger ausgeht. Solange die Beklagte trotzdem die Verfahrens- und Förderpflichten eingehalten hat, ist nicht ersichtlich, dass es zu einer Benachteiligung gekommen ist.
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bb) Der Kläger hat auch auf den Hinweis der Kammer im Termin am 13.08.2025 keinen Beweis für die weiteren von ihm behaupteten Verstöße gegen Verfahrens- und Förderpflichten angetreten und ist damit beweisfällig geblieben.
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(1) Dem Kläger oblag es, Indizien darzulegen und zu beweisen, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes oder einer Schwerbehinderung vermuten lassen.
51

(a) § 22 AGG sieht eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast erst für den Fall vor, dass die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes oder einer Schwerbehinderung besteht (BAG 01.07.2021 – 8 AZR 297/20 – Rn. 33 f.; 16.05.2019 – 8 AZR 315/18 – Rn. 25 f.).
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(b) Die Darlegungs- und Beweislast für den Vortrag von Indizien ist dabei abgestuft. Eine sich von außerhalb des Unternehmens bewerbende Person kann aus eigener Kenntnis regelmäßig keine Angaben dazu machen, ob der Arbeitgeber seinen Verfahrens- und Förderpflichten nach § 164 Abs. 1 SGB IX nachgekommen ist. Insoweit handelt es sich um tatsächliche Verhältnisse in der Sphäre des Arbeitgebers, in die ein externer Bewerber regelmäßig keinen Einblick hat. Dies führt dazu, dass den Arbeitgeber insoweit eine sekundäre Darlegungslast trifft (BAG 14.06.2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 29, 39; 01.07.2021 – 8 AZR 297/20 – Rn. 35). Die sekundäre Darlegungslast führt allerdings weder zu einer Umkehr der Beweislast noch zu einer über die prozessuale Wahrheitspflicht und Erklärungslast (§ 138 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO) hinausgehenden Verpflichtung der Partei, dem Prozessgegner alle für seinen Prozesserfolg benötigten Informationen zu verschaffen (BAG 01.07.2021 – 8 AZR 297/20 – Rn. 35; vgl. allgemein BAG 07.05.2024 – 5 AZR 177/23 – Rn. 28; 27.05.2020 – 5 AZR 387/19 – Rn. 27).
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(2) Der Kläger ist beweisfällig geblieben, soweit er einen Verstoß der Beklagten gegen die Pflicht aus § 164 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behauptet, die Stellenanzeige an die Bundesagentur für Arbeit zu übermitteln. Die Beklagte hat im Einzelnen erklärt, dass sie die Stellenanzeige am 10.02.2025 übermittelt habe. Zudem hat die Bundesagentur für Arbeit die Stellenanzeige veröffentlicht. Danach wäre es an dem Kläger gewesen, Beweis für seine Behauptung anzutreten.
54

(3) Gleiches gilt hinsichtlich der Weiterleitung der Bewerbung an die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat. Gemäß § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX ist die Beklagte verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat über vorliegende Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten.
55

(a) Indem die Beklagte erklärt hat, dass sie die Bewerbung am 12.02.2025 per E-Mail an Frau N. weitergeleitet hat und einen Ausdruck dieser E-Mail vorgelegt hat, ist sie ihrer sekundären Darlegungslast hinsichtlich der Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung nachgekommen. Der Kläger hat keinen Beweis für den von ihm behaupteten Verstoß angetreten.
56

(b) Auch zu der Unterrichtung des Betriebsrats hat die Beklagte die maßgeblichen Tatsachen vorgetragen, indem sie erklärt hat, dass der Betriebsrat Frau N. als Empfangsvertreterin hinsichtlich der Angelegenheiten schwerbehinderter Menschen benannt hat. Dies ist zulässig. Der Betriebsrat kann ein anderes Betriebsratsmitglied als den Vorsitzenden in Abweichung von § 26 Abs. 2 Satz 2 BetrVG ermächtigen, Erklärungen für ihn in Empfang zu nehmen (GK-BetrVG/Raab 12. Aufl. BetrVG § 26 Rn. 59; Fitting 32. Aufl. BetrVG § 26 Rn. 43). In der vorgelegten E-Mail vom 12.02.2025 an Frau N. ist in der Anrede ausdrücklich auch der Betriebsrat angesprochen. Der Kläger hat auf diesen ausführlichen Vortrag der Beklagten keinen Beweis angetreten.
57

(4) Der Kläger ist beweisfällig hinsichtlich seiner Behauptung geblieben, die Beklagte habe die Pflichten zur Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung und der Anhörung des Betriebsrats aus § 164 Abs. 1 Satz 6 SGB IX verletzt.
58

(a) Die Beklagte hat im Einzelnen und durch Vorlage eines Ausdrucks ihrer E-Mail sowie der E-Mail der Frau N. (vgl. Anlage H. zum Schriftsatz der Beklagten vom 27.06.2025) erklärt, dass sie die Schwerbehindertenvertretung vor der Ablehnung der Bewerbung des Klägers am 05.03.2025 beteiligt hat. Zu seiner gegenteiligen Behauptung hat der Kläger keinen Beweis angetreten.
59

(b) Indem die Beklagte erklärt hat, dass sie mit derselben E-Mail auch den Betriebsrat angehört hat und Frau N. mit ihrer E-Mail auch für den Betriebsrat Stellung genommen hat, ist sie insoweit ihrer sekundären Darlegungslast nachgekommen. Solange Frau N. es so verstanden hätte, dass die E-Mail an sie auch als Empfangsvertreterin des Betriebsrats gerichtet gewesen sei, kommt es auf die Anrede in der E-Mail der Beklagten nicht maßgeblich an, in der nur die Schwerbehindertenvertretung erwähnt ist. Gleiches gilt für die Antwort der Frau N. Wenn sie damit – wie von der Beklagten vorgetragen – auch für den Betriebsrat Stellung genommen hätte, hätte die Beklagte die Anhörungspflicht erfüllt. Allein die Kurzfristigkeit der Antwort der Frau N. steht dem nicht dagegen.
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(5) Schließlich hat der beweisbelastete Kläger keinen Beweis angetreten für die behaupteten Verstöße gegen § 164 Abs. 1 Satz 7 bis 9 SGB IX. Die Beklagte hat konkret erklärt, dass sie die Beschäftigungspflicht nach § 154 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erfülle, indem sie die Beschäftigtenzahl (1.353 Personen) und die Anzahl der davon schwerbehinderten Personen (69 Personen) genannt hat. Die unstreitigen Angaben im Geschäftsbericht der Beklagten stehen dem nicht entgegen. Zur Bestimmung der Beschäftigtenquote ist der Arbeitsplatzbegriff des § 154 Abs. 1 Satz 1 SGB IX maßgeblich, der in §§ 156, 157 SGB IX näher definiert wird. Es ist nicht ersichtlich, dass im Geschäftsbericht dieser Begriff zugrunde gelegt worden ist.
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4. Die Beklagte hat die aus dem Verstoß gegen § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX folgende Vermutung einer Benachteiligung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung nicht widerlegt.
62

a) Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Hierfür gilt das Beweismaß des sogenannten Vollbeweises. Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe oder die Schwerbehinderung zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben (BAG 27.03.2025 – 8 AZR 123/24 – Rn. 30; 14.06.2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 23).
63

aa) Der Arbeitgeber kann die Vermutung grundsätzlich dadurch widerlegen, dass er substantiiert dazu vorträgt und im Bestreitensfall beweist, dass er bei der Behandlung aller Bewerbungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen ist, das eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. der Schwerbehinderung ausschließt (BAG 14.06.2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 44; 11.08.2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 83).
64

bb) Die Kausalitätsvermutung kann im Einzelfall nach § 22 AGG widerlegt sein, wenn der Arbeitgeber darlegt und im Bestreitensfall beweist, dass der erfolglose Bewerber eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit oder den Beruf an sich ist (BAG 14.06.2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 45; 11.08.2016 – 8 AZR 406/14 – Rn. 85).
65

b) Diese Anforderungen erfüllt der Vortrag der Beklagten nicht. Sie hat nicht erklärt, dass sie bei der Behandlung aller Bewerbungen nach einem bestimmten Verfahren vorgegangen ist. Aus dem Vorbringen der Beklagten ergibt sich auch nicht, dass der Kläger eine formale Qualifikation nicht aufweist oder eine formale Anforderung nicht erfüllt, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der ausgeschriebenen Tätigkeit wäre. Die in der Stellenausschreibung der Beklagten geforderten Qualifikationen sind keine formalen Anforderungen, die unverzichtbare Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeit eines Abteilungsleiters Digitalisierung & Automatisierung sind. Für diese Tätigkeit gibt es schlechterdings derartige Anforderungen nicht. Dass die Beklagte bestimmte Vorerfahrungen für erforderlich hält, reicht insoweit nicht aus.
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B. Die zu zahlende Entschädigung war mit 10.625,00 € zu bemessen.
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1. Im Fall einer Nichteinstellung ist für die Bemessung der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG an das Bruttomonatsentgelt anzuknüpfen, das der erfolglose Bewerber erzielt bzw. ungefähr erzielt hätte, wenn er die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte. Dies folgt aus der in § 15 Abs. 2 AGG getroffenen Bestimmung, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre (BAG 14.06.2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 57; 25.11.2021 – 8 AZR 313/20 – Rn. 44).
68

2. Bei der Bemessung ist ein Bruttojahresgehalt iHv. 85.000,00 € zugrunde zu legen. Nachdem die Beklagte ausführlich unter Vorlage der Personalanforderung vom 19.06.2024 und Unterlagen mit der Stellennummer aus dem Bewerbungsverfahren erklärt hat, dass sie eine Vergütung in dieser Höhe vorgesehen hatte, hätte der Kläger zumindest Beweis für einen höheren Betrag antreten müssen. Die Beweislast liegt nach allgemeinen Grundsätzen bei ihm als Anspruchsteller.
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3. Durch eine Entschädigung iHv. 1,5 auf der Stelle erzielbaren Bruttomonatsverdiensten wird der Kläger angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung erlittenen immateriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zudem erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen. Da es auf ein Verschulden nicht ankommt, muss die Kammer nicht prüfen, ob der Vermittlungsauftrag bloß aufgrund einer Unachtsamkeit nicht erteilt wurde. Gesichtspunkte, die mit einem geringen Grad von Verschulden zusammenhängen, können bei der Bemessung der Entschädigung nicht mindernd berücksichtigt werden (BAG 05.12.2024 – 8 AZR 370/20 – Rn. 110; BAG 25.07.2024 – 8 AZR 21/23 – Rn. 61). Auf der anderen Seite sind im vorliegenden Verfahren aber auch keine Umstände erkennbar, die einen höheren Grad von Verschulden der Beklagten belegen, weshalb auch keine Veranlassung besteht, die Entschädigung höher festzusetzen. Ein erhöhter Verschuldensgrad der Beklagten folgt nicht daraus, dass der Kläger zu den im Arbeitsleben besonders betroffenen schwerbehinderten Menschen iSv. § 155 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d SGB IX gehört, weil nicht ersichtlich ist, dass die Beklagte Kenntnis davon hatte. Auf die Frage, ob die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG die Kappungsgrenze von drei Monatsgehältern nicht übersteigen durfte, weil der Kläger auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, kommt es danach nicht an (vgl. BAG 14.06.2023 – 8 AZR 136/22 – Rn. 58; 25.11.2021 – 8 AZR 313/20 – Rn. 45).
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C. Der Kläger hat einen Anspruch die geltend gemachten Zinsen aus §§ 291 Satz 1, 288 Abs. 1 Satz 1 BGB.
71

D. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Parteien gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO iVm. § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG anteilig nach ihrem Unterliegen im Rechtsstreit. Dabei war von einem Gebührenstreitwert iHv. 37.500,00 € auszugehen, weil der Kläger diesen Betrag als Mindestentschädigung bezeichnet hat.
72

E. Der Rechtsmittelstreitwert war gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Er entspricht der Höhe nach dem vom Kläger verlangten Mindestbetrag.
73

F. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen, da die Voraussetzungen des § 64 Abs. 3 ArbGG nicht vorliegen.

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VonRA Moegelin

Gleichstellungsgrundsatz für Leiharbeitnehmer

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Durch den Tarifvertrag über Branchenzuschläge für Arbeitnehmerüberlassungen in der Metall- und Elektroindustrie zwischen BAP/iGZ und IG Metall (TV BZ ME) wird der in § 8 Abs. 1 AÜG bestimmte Gleichstellungsgrundsatz wirksam abbedungen.(Rn.45) (Rn.50) (Rn.56) Die sich aus der Abweichung für die Leiharbeitnehmer ggf. ergebenden Nachteile werden dadurch ausgeglichen, dass die Leiharbeitnehmer auch in überlassungsfreien Zeiten Entgelt erhalten.(Rn.59)
Der Anspruch auf eine Inflationsausgleichsprämie nach dem Tarifvertrag Inflationsausgleichsprämie zum Tarifvertrag über Branchenzuschläge für Arbeitnehmerüberlassungen in der Metall- und Elektroindustrie zwischen BAP/iGZ und IG Metall (TV IAP ME) setzt voraus, dass zum letzten Tag des jeweiligen Abrechnungsmonats ein Arbeitsverhältnis mit dem Leiharbeitgeber besteht.(Rn.66)
Bei einer Unterbrechung des Einsatzes eines Leiharbeitnehmers in der Metall- und Elektroindustrie von länger als drei Monaten beginnt die Berechnung der für einen Anspruch auf eine Inflationsausgleichsprämie nach TV IAP ME erforderliche Mindesteinsatzdauer von einem Monat von vorn und der Arbeitnehmer muss erneut die Mindestdauer von einem Monat erreichen, um wieder Anspruch auf die Inflationsausgleichsprämie zu bekommen.(Rn.69) (Leitsatz)

Volltext des Urteils des Arbeitsgerichts Kiel vom 30.07.2024 – 1 Ca 370 e/24:

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Der Streitwert wird festgesetzt auf EUR 2.200,00.

4. Die Berufung wird gesondert zugelassen.

Tatbestand

Randnummer1

Die Parteien streiten über die Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie für die Jahre 2023 und 2024.

Randnummer2

Die Beklagte betreibt gewerbsmäßig Arbeitnehmerüberlassung. Sie ist Mitglied im Gesamtverband der Personaldienstleister e.V. (GVP), der Rechtsnachfolgerin des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V. (IgZ) sowie des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister e.V. (BAP).

Randnummer3

Die Klägerin war in der Zeit vom 01.04.2022 bis zum 31.07.2023 bei der Beklagten angestellt. Während der Zeit des Arbeitsverhältnisses war die Klägerin im Unternehmen …. GmbH (nachfolgend Firma …) eingesetzt. Seit dem 01.08.2023 ist die Klägerin fest bei der Firma … beschäftigt.

Randnummer4

Arbeitsvertraglich ist auf die zwischen der IgZ und der IG Metall abgeschlossenen Tarifverträge Bezug genommen (§ 1 AV, Anlage B6, Bl. 108 d.A.).

Randnummer5

Von der Firma … wurde ein Fragebogen zur Ermittlung von Equal Pay sowie des Branchenzuschlags ab dem 16. Einsatzmonat ausgefüllt und der Beklagten übermittelt. Zum Inhalt des Fragebogens wird auf Anlage K2, (Bl. 6 d.A.) verwiesen.

Randnummer6

Der Betrieb der Firma … zählt zur Metall- und Elektroindustrie. Zwischen dem BAP und dem IgZ einerseits und der IG Metall andererseits besteht ein Tarifvertrag über Branchenzuschläge für die Metall- und Elektroindustrie (TV BZ ME). Darüber hinaus besteht zwischen den Tarifparteien ein Tarifvertrag Inflationsausgleichsprämie (TV IAP ME).

Randnummer7

Der TV BZ ME trat zum 01.04.2017 in Kraft. In der zuletzt geltenden Fassung vom 16.06.2023 regelt der TV BZ ME u.a.:

Randnummer8

§ 2 Branchenzuschlag

Randnummer9

(1) Arbeitnehmer erhalten bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Dauer ihres jeweiligen Einsatzes im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung in einen Kundenbetrieb der Metall- und Elektroindustrie einen Branchenzuschlag.

Randnummer10

(2) […]

Randnummer11

(3) Der Branchenzuschlag beträgt nach der Einsatzdauer in einem Kundenbetrieb folgende Prozentwerte:

Randnummer12

– ab Einsatzbeginn 15 %

Randnummer13

– nach dem dritten vollendeten Monat 20 %

Randnummer14

– nach dem fünften vollendeten Monat 30 %

Randnummer15

– nach dem siebten vollendeten Monat 45 %

Randnummer16

– nach dem neunten vollendeten Monat 50 %

Randnummer17

– nach dem fünfzehnten vollendeten Monat 65 %

Randnummer18

des Stundentabellenentgelts des Entgelttarifvertrages Zeitarbeit, abgeschlossen zwischen dem Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister e. V. – BAP – und der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit (im Folgenden ETV BAP) bzw. des Entgelttarifvertrages, abgeschlossen zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V. – iGZ – und der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit (im Folgenden ETV iGZ), je nach Einschlägigkeit.

Randnummer19

(4) Mit der letzten Stufe der Branchenzuschläge nach dem fünfzehnten vollendeten Monat wird ein gleichwertiges Arbeitsentgelt gemäß § 8 Absatz 4 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in der ab dem 1. April 2017 gültigen Fassung erreicht.

Randnummer20

(5) […]

Randnummer21

§ 6 Fortführung des Tarifvertrages

Randnummer22

(1) Dieser Tarifvertrag führt den Tarifvertrag vom 22. Mai 2012 einschließlich dessen Berechnungsregelung der Einsatzzeiten als Anspruchsvoraussetzung fort. Eine Neuberechnung der Einsatzzeiten aus Anlass der Fortführung erfolgt nicht.

Randnummer23

(2) Der Tarifvertrag Inflationsausgleichsprämie vom 16. Juni 2023 wird für die Dauer seiner Laufzeit Bestandteil dieses Tarifvertrages über Branchenzuschläge für Arbeitnehmerüberlassungen in der Metall- und Elektroindustrie.

Randnummer24

Der TV IAP ME trat zum 01.07.2023 in Kraft. In dem Tarifvertrag ist u.a. geregelt:

§ 2

Randnummer25

(1) Zur Abmilderung steigender Verbraucherpreise vereinbaren die Tarifvertragsparteien zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn die Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie gemäß § 3 Nr. 11c EStG nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen.

Randnummer26

(2) Vollzeitbeschäftigte erhalten für Zeiten des Einsatzes in einem Kundenbetrieb der Metall- und Elektroindustrie gemäß § 1 TV BZ ME eine Inflationsausgleichsprämie bis zu 2.300 Euro. Der Anspruch beträgt im Januar 2024 300 Euro, in den Monaten Februar bis November 2024 jeweils 200 Euro, zahlbar mit den jeweiligen Monatsabrechnungen.

Randnummer27

(3) Teilzeitbeschäftigte haben Anspruch auf eine anteilige Inflationsausgleichsprämie, die sich nach dem Verhältnis ihrer vertraglichen Arbeitszeit zur tariflichen Arbeitszeit bemisst. Beschäftigte, die aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden, erhalten die anteilige Monatsauszahlung mit ihrer Schlussabrechnung entsprechend der bis zum Ausscheiden geschuldeten Arbeitstage.

Randnummer28

(4) Die Höhe des maximalen Anspruchs von 2.300 Euro kann begrenzt werden auf den Anspruch eines vergleichbaren Arbeitnehmers des Kundenbetriebes auf eine im Zeitraum Dezember 2022 bis zum Ablauf des Kalenderjahres 2024 geleistete bzw. zu leistende Inflationsausgleichsprämie. Voraussetzung hierfür ist, dass das Zeitarbeitsunternehmen dem oder der Beschäftigten einen Nachweis über die entsprechende Regelung oder einen Nachweis über eine Nichtzahlung der Inflationsausgleichsprämie erbringt

§ 3

Randnummer29

(1) Voraussetzung ist eine Betriebszugehörigkeit von fünf Monaten sowie eine Einsatzzeit von einem Monat in einem Kundenbetrieb des Geltungsbereichs des TV BZ ME, jeweils zum letzten Tag des Abrechnungsmonats. Unterbrechungszeiten richten sich nach § 2 Abs. 2 TV BZ ME.

Randnummer30

(2) Die Höhe der Prämie reduziert sich anteilig im Verhältnis zu den im jeweiligen Monat geschuldeten Arbeitstagen um die Tage, in denen der oder die Beschäftigte sich nicht im Einsatz in einem Kundenbetrieb im Geltungsbereich des TV BZ ME befand. Feier- und Urlaubstage sowie Krankheitstage innerhalb der gesetzlichen Entgeltfortzahlung unterbrechen den Einsatz nicht.

Randnummer31

Die Firma … zahlte im Frühjahr 2023 an ihre Mitarbeiter eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von EUR 100,00. Im Juni 2023 zahlte die Firma … eine weitere Inflationsausgleichsprämie in Höhe von EUR 1.000,00.

Randnummer32

Im Februar 2023 erhielt auch die Klägerin eine Inflationsausgleichsprämie von EUR 100,00. Die weitere Inflationsausgleichsprämie von EUR 1.000,00 erhielt die Klägerin nicht.

Randnummer33

Mit Schreiben vom 06.11.2023 forderte die Klägerin die Beklagte auf, an sie weitere EUR 1.000,00 zu zahlen. Eine Zahlung erfolgte hierauf nicht.

Randnummer34

Die Klägerin ist der Ansicht,

Randnummer35

ihr stehe aufgrund des gesetzlichen Equal-Pay-Gebotes eine Inflationsausgleichsprämie in gleicher Höhe zu, wie sie die Stammbelegschaft der Firma … erhalten hat. Der Anspruch bestehe, weil der TV IAP ME erst zum 01.07.2023 in Kraft getreten sei, die Firma … die Inflationsausgleichsprämie aber bereits im Juni 2023 an ihre Belegschaft gezahlt habe. Zum Zeitpunkt der Zahlung habe deshalb kein den Gleichstellungsgrundsatz abbedingender Tarifvertrag bestanden. Für 2023 ergebe sich deshalb eine Zahlung von EUR 1.000,00. Für 2024 habe die Klägerin einen weiteren Anspruch in Höhe von EUR 1.200,00. Die Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin die Inflationsausgleichsprämie zu zahlen, ergebe sich auch aus dem Fragebogen zur Ermittlung von Equal Pay vom 08.12.2022. Dieser stelle eine verbindliche vertragliche Absprache dar, die die Beklagte zur Zahlung u.a. der Inflationsausgleichsprämie verpflichte. Schließlich habe sie aus dem TV IAP ME einen Anspruch auf die Inflationsausgleichsprämie. Der Tarifvertrag sei so auszulegen, dass der Anspruch auf die Prämie bereits dann entstehe, wenn dessen tatbestandlichen Voraussetzungen nach Inkrafttreten des Tarifvertrages aber vor Januar 2024 erfüllt sind.

Randnummer36

Die Klägerin beantragt

Randnummer37

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von € 1.000,00 brutto zu zahlen.

Randnummer38

2. die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen weiteren Betrag in Höhe von € 1.200,00 brutto zu zahlen;

Randnummer39

3. Die Beklagte wird verurteilt, den unter Ziff.1 und Ziffer 2 zu zahlenden Betrag ordnungsgemäß unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben gem- § 3 Nr. 11 c EStG als Inflationsausgleich abzurechnen und den Nettobetrag an die Klägerin zu zahlen.

Randnummer40

Die Beklagte beantragt,

Randnummer41

Die Klage abzuweisen

Randnummer42

Die Beklagte ist der Ansicht,

Randnummer43

sie sei schon nicht zur Zahlung von Equal Pay verpflichtet, weil auf das Arbeitsverhältnis die für die Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie geltenden Tarifverträge und damit u.a. der Tarifvertrag über Branchenzuschläge für Arbeitnehmerüberlassung in der Metall- und Elektroindustrie (TV BZ ME) sowie der Tarifvertrag Inflationsausgleichsprämie (TV IAP ME) vom 16.06.2023 Anwendung fänden. Hierdurch sei der Gleichstellungsgrundsatz des § 8 AÜG wirksam abbedungen worden. Aus dem TV IAP ME könne die Klägerin keine Ansprüche herleiten, weil danach ein Anspruch auf eine Inflationsausgleichsprämie mindestens voraussetze, dass das Arbeitsverhältnis zum jeweiligen Auszahlungsstichtag (also mindestens bis Januar 2024) bestanden habe.

Entscheidungsgründe

I.

Randnummer44

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zahlung einer weiteren Inflationsausgleichsprämie zu.

1.

Randnummer45

Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zahlung einer weiteren Inflationsausgleichsprämie für das Jahr 2023 aus dem Grundsatz der Gleichstellung nach § 8 Abs. 1 AÜG zu. Die Vertragsparteien haben den Grundsatz der Gleichstellung wirksam dadurch abbedungen, dass sie u.a. den TV BZ ME arbeitsvertraglich in Bezug genommen haben.

a.

Randnummer46

Nach § 8 Abs. 1 S.1 AÜG ist der Verleiher in einem Arbeitnehmerüberlassungsverhältnis verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren.

Randnummer47

In Bezug auf das Arbeitsentgelt bedeutet dies, dass ein Gesamtvergleich anzustellen ist zwischen dem bei dem Entleiher an vergleichbare Arbeitnehmer gezahlten Entgelt und dem dem Leiharbeitnehmer vom Verleiher gezahlten Entgelt. Hierbei sind grundsätzlich neben der Grundvergütung auch alle sonstigen Entgeltbestandteile zu berücksichtigen.

Randnummer48

Nach § 8 Abs. 2 AÜG kann unter den in Abs. 2 bis 4 näher genannten Voraussetzungen von dem Gleichstellungsgrundsatz auch zu Lasten des Leiharbeitnehmers abgewichen werden.

Randnummer49

Nach § 8 Abs. 4 AÜG kann hinsichtlich des Arbeitsentgeltes vom Gleichstellungsgrundsatz für die ersten neun Monate einer Überlassung durch Tarifvertrag abgewichen werden. Für die Zeit nach dem 9. Monat gilt dies nur unter den weiteren Voraussetzungen, dass nach spätestens 15 Monaten einer Überlassung an einen Entleiher mindestens ein Arbeitsentgelt erreicht wird, das in dem abweichenden Tarifvertrag als gleichwertig bezogen auf die jeweilige Einsatzbranche festgelegt ist und nach einer Einarbeitungszeit von längstens sechs Wochen eine stufenweise Heranführung an dieses Arbeitsentgelt erfolgt. Dabei sieht § 8 Abs. 4 S. 3 AÜG ausdrücklich vor, dass im Geltungsbereich eines Tarifvertrages die Arbeitsvertragsparteien einen Tarifvertrag in Bezug nehmen können, mit der Folge, dass auch für diese Arbeitsverhältnisse der Gleichstellungsgrundsatz in Bezug auf das Arbeitsentgelt wirksam abbedungen werden kann.

b.

Randnummer50

Der TV BZ ME ist durch den Arbeitsvertrag vom 30.04.2022 (Anlage B6, Bl. 113 d.A.) wirksam in Bezug genommen worden. Die offensichtlich als Allgemeine Geschäftsbedingung vereinbarte Regelung in § 1 Abs. 1 des AV ist inhaltlich klar und verständlich und benachteiligt die Klägerin nicht unangemessen.

aa.

Randnummer51

Es wird auf die jeweils geltende Fassung der zwischen dem Arbeitgeberverband IgZ und den Gewerkschaften IG BCE, NGG, IG Metall, GEW, ver.di, IG Bau, EVG und GdP Bezug genommen. Dabei enthält die Klausel eine Kollisionsregel, nach der zu ermitteln ist, welcher von ggf. mehreren einschlägigen Tarifverträgen zur Anwendung kommt. Hiernach kommt es während eines Überlassungseinsatzes auf die für den Entleihbetrieb maßgebliche Branche an. Die mit der für die Einsatzbranche satzungsgemäß zuständigen Gewerkschaft abgeschlossenen Tarifverträge finden jeweils Anwendung. Sofern mehrere Gewerkschaften satzungsmäßig für eine Branche zuständig sind, gilt die im Arbeitsvertrag genannte Reihenfolge. Ist keine Gewerkschaft satzungsgemäß zuständig sowie in Zeiten vor der ersten Überlassung, gelten die mit ver.di abgeschlossenen Tarifverträge.

bb.

Randnummer52

Es ist umstritten, ob es sich bei zwischen den Arbeitgeberverbänden IgZ und BAP einerseits und der DGB-Tarifgemeinschaft andererseits abgeschlossenen Tarifverträgen um sogenannte mehrgliedrige Tarifverträge handelt, also letztlich um mehrere einzelne Tarifwerke mit den jeweiligen DGB-Gewerkschaften (so BAG, EuGH-Vorlage vom 16. Dezember 2020 – 5 AZR 143/19 (A) –, BAGE 173, 251-268, Rn. 20). Es wird vertreten, dass es sich stattdessen um ein einheitliches Tarifwerk handelt (Nachweise zum Meinungsstand bei Bissels in: Tschöpe, Arbeitsrecht Handbuch, f) Arbeits- und Entgeltbedingungen des Leiharbeitnehmers, Rn. 163). Handelt es sich um mehrgliedrige Tarifverträge, wäre eine Bezugnahmeklausel nur dann hinreichend transparent im Sinne des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, wenn sie eine klare Kollisionsregelung enthält. Andernfalls wäre unklar, welcher der in Bezug genommenen Tarifverträge zur Anwendung kommt.

Randnummer53

Die Frage, ob es sich um mehrgliedrige Tarifverträge handelt, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil die Bezugnahmeklausel eine klare Kollisionsregel enthält. Nach den Anforderungen des BAG ist erforderlich, dass die Bezugnahmeklausel bereits bei Vertragsschluss erkennen lässt, welches der mehreren in Bezug genommenen Tarifwerke bei sich widersprechenden Regelungen den Vorrang haben soll. Andernfalls lässt sich nicht für jeden Zeitpunkt bestimmen, welches der in Bezug genommenen tariflichen Regelwerke sich jeweils durchsetzen und gelten soll. Fehlt in der Bezugnahmeklausel eine Kollisionsregel, besteht die Gefahr, dass der Arbeitnehmer wegen dieser Unklarheit seine Rechte nicht wahrnimmt. Gerade dies will das Bestimmtheitsgebot verhindern (BAG, Urteil vom 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 –, BAGE 144, 306-321, Rn. 30).

Randnummer54

Die im Arbeitsvertrag der Klägerin verwendete Bezugnahmeklausel entspricht diesen Anforderungen (vgl. Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 28. Juni 2016 – 2 Sa 421/15 –, Rn. 70, juris). Sie enthält insbesondere eine klar verständliche Kollisionsregelung. Auch wenn die Regelung sprachlich sperrig formuliert ist, lässt sich aus ihr mit der hinreichenden Deutlichkeit entnehmen, welcher Tarifvertrag zu welchem Zeitpunkt auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden soll. Die verschachtelte Formulierung zur Kollision mehrerer in Betracht kommender Tarifwerke ist der Besonderheit der Arbeitnehmerüberlassungsbranche geschuldet, bei der für verschiedene Branchen unterschiedliche Branchenzuschläge gezahlt werden, um ein jeweils gleichwertiges Entgelt sicherzustellen. Dementsprechend differenziert die Klausel in zulässiger Weise nach der jeweiligen Einsatzbranche. Es führt nicht zur Intransparenz, dass dadurch bei Vertragsschluss noch nicht klar ist, zu welchem Zeitpunkt welcher Tarifvertrag zur Anwendung kommt (vgl. BAG, Urteil vom 13. März 2013 – 5 AZR 954/11 –, BAGE 144, 306-321, Rn. 27). Denn es sind immerhin die abstrakten Kriterien benannt, nach denen sich die Bestimmung richten soll. Die jeweils einschlägige Branche lässt sich so für den Arbeitnehmer zu jedem Zeitpunkt ermitteln, so dass auch unschwer bestimmt werden kann, welche Gewerkschaft satzungsgemäß jeweils zuständig ist.

c.

Randnummer55

Es ist nach dem Vortrag der Klägerseite schon nicht ersichtlich, inwiefern durch die nicht erfolgte Inflationsausgleichsprämie der Gleichstellungsgrundsatz verletzt sein soll. Es ist nämlich keine Vergleichsberechnung erfolgt, bei der alle jeweils gewährten Entgeltbestandteile summiert und anschließend verglichen worden sind. Die Klägerin beruft sich schlicht darauf, ihr habe auch die Inflationsausgleichsprämie gezahlt werden müssen, weil die Stammbelegschaft der Firma … diese erhalten hat. Inwiefern das der Klägerin gewährte Entgelt insgesamt unter Berücksichtigung der Grundvergütung und sonstiger gewährter Entgeltbestandteile unter dem Entgeltniveau vergleichbarer Stammarbeitnehmer der Firma … liegt, lässt sich dem Vortrag nicht entnehmen. Hierauf kam es aber auch nicht an, weil der Gleichstellungsgrundsatz nach den oben dargestellten Maßstäben wirksam abbedungen worden ist.

aa.

Randnummer56

Durch den TV BZ ME wurde für die hier maßgebliche Branche eine Regelung geschaffen, die den in § 8 Abs. 1 AÜG bestimmten Gleichstellungsgrundsatz wirksam abbedungen hat.

(1)

Randnummer57

Der TV BZ ME entspricht den Anforderungen des § 8 Abs. 4 AÜG. Die Tarifparteien haben festgelegt, dass mit der im Tarifvertrag geregelten Vergütung ein Entgelt sichergestellt ist, das als gleichwertig mit dem tarifvertraglichen Entgelt vergleichbarer Stammarbeitnehmer in der Einsatzbranche anzusehen ist. Der TV BZ ME sieht zudem eine stufenweise Heranführung an dieses Entgeltniveau vor.

(2)

Randnummer58

Die tarifvertragliche Festlegung der Gleichwertigkeit ist durch das Gericht nur eingeschränkt überprüfbar. Nach der Konzeption des § 8 Abs. 4 AÜG sollen die Tarifparteien – nicht die Gerichte – bewerten, wann ein Entgeltniveau in der jeweiligen Einsatzbranche als gleichwertig anzusehen ist. Ihnen steht ein Beurteilungsspielraum zu (BAG, Urteil vom 31. Mai 2023 – 5 AZR 143/19 –, Rn. 16, juris). Nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urteil vom 15. Dezember 2022 – C-311/21 – Rn. 71 ff, juris) ist von den nationalen Gerichten dennoch zu prüfen, ob das auf das Leiharbeitsverhältnis anwendbare Tarifwerk den Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer angemessen achtet. Die nationalen Gerichte sind danach verpflichtet, die Vereinbarkeit der tarifvertraglichen Abweichung vom Gleichstellungs- und Gleichbehandlungsgrundsatz mit den sich aus Art. 5 Abs. 3 RL 2008/104 ergebenden Anforderungen sicherzustellen. Nach den Vorgaben des EuGH ist hierfür erforderlich, dass durch die Abweichung entstehende Ungleichbehandlungen durch Ausgleichsvorteile in anderen Bereichen ausgeglichen werden. Hierdurch ist aber nicht gesagt, dass sichergestellt werden muss, dass die Ausgleichsvorteile in summa wieder zur Gleichbehandlung bzw. zum vollständigen Ausgleich führen müssen.

Randnummer59

Die durch die Tarifparteien für die Metall- und Elektroindustrie aufgestellten Regelungen genügen nach der Rechtsprechung des BAG im Zusammenspiel mit zwingendem nationalem Gesetzesrecht diesen Anforderungen (BAG, Urteil vom 31. Mai 2023 – 5 AZR 143/19 –, Rn. 27 ff., juris). Indem die Leiharbeitnehmer auch in überlassungsfreien Zeiträumen Entgelt erhalten, sieht die tarifvertragliche Konzeption eine Ausgleichsregelung für etwaige zu Lasten der Leiharbeitnehmer bestehende Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz vor. Neben der tarifvertraglichen Regelung wird der Anspruch auf Vergütung in einsatzfreien Zeiten auch durch § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG sichergestellt. Hierdurch wird der Anspruch auf Annahmeverzugslohn, der grundsätzlich vertraglich abbedungen werden kann, der Disposition durch die Arbeitsvertrags- und Tarifparteien entzogen. Die Tarifparteien sind hinsichtlich der Vergütung zudem an durch Rechtsverordnung oder Gesetz bestimmte Untergrenzen für die Mindeststundenentgelte gebunden. Diese dürfen auch in Zeiten ohne Überlassung nicht unterschritten werden (§ 8 Abs. 2 S. 1 AÜG). Schließlich ist durch die gesetzliche Regelung des § 8 Abs. 4 AÜG sichergestellt, dass im Falle der Abweichung über neun Monate hinaus eine stufenweise Heranführung an das Arbeitsentgelt vergleichbarer Stammarbeitnehmer in der Einsatzbranche erfolgt. Diese zeitliche Begrenzung trägt dazu bei, den Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer in der Einsatzbranche im Sinne des Art. 5 Abs. 3 RL 2008/104 zu wahren.

Randnummer60

Es ist unerheblich, ob hierdurch ein vollständiger Ausgleich geschaffen wird. Es ist auch unerheblich ob in einem konkreten Arbeitsverhältnis Zeiträume ohne Arbeitseinsatz stattfinden. Maßgeblich ist, dass hierdurch insgesamt der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer sichergestellt wird.

(3)

Randnummer61

Der Abbedingung steht nicht entgegen, dass der TV IAP ME erst zum 01.07.2023 in Kraft getreten ist. Die Abbedingung des § 8 Abs. 1 AÜG erfolgte bereits durch den zuvor in Kraft getretenen TV BZ ME. Dieser trat zum 01.04.2017 in Kraft und wurde zum 01.07.2023 um die Einbeziehung des TV IAP ME ergänzt. Die Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes hing nicht vom Zeitpunkt der Einbeziehung des TV IAP ME ab.

bb.

Randnummer62

Die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz wirkt durch die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf das Tarifwerk auch auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin.

Randnummer63

Im Falle einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen von § 8 Abs. 1 AÜG abweichenden Tarifvertrag ist erforderlich, dass der Arbeitsvertrag das gesamte Tarifwerk in Bezug nimmt und nicht nur in Teilen hierauf verweist. Nur die Anwendung des gesamten Tarifwerks, das bei unterstellter Tarifgebundenheit beider Parteien auf das Arbeitsverhältnis unmittelbar Anwendung fände, kann für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung die Vermutung begründen, dass die divergierenden Interessen angemessen ausgeglichen werden (BAG, Urteil vom 16. Oktober 2019 – 4 AZR 66/18 –, BAGE 168, 96-112, Rn. 23).

Randnummer64

Diese Anforderung erfüllt der Arbeitsvertrag der Klägerin. Der Vertrag nimmt das gesamte Tarifwerk vollständig in Bezug. Die Bezugnahmeklausel sieht keine Ausnahme bestimmter Regelungsbereiche vor. Auch enthält der Arbeitsvertrag im Übrigen keine Regelungen, die von den tarifvertraglichen Bestimmungen zu Lasten der Klägerin abweichen.

2.

Randnummer65

Der Klägerin steht auch aus dem TV BZ ME i.V.m. dem TV IAP ME kein Anspruch auf Zahlung einer weiteren Inflationsausgleichsprämie zu. Die nach dem Tarifvertrag erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen liegen nicht vor, weil die Klägerin bereits zum 31.07.2023 aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten ausgeschieden ist.

(1)

Randnummer66

Nach § 3 Abs. 1 TV IAP ME ist Voraussetzung für einen Anspruch auf Inflationsausgleichsprämie eine Betriebszugehörigkeit von fünf Monaten und eine Einsatzzeit von einem Monat in einem Kundenbetrieb des Geltungsbereichs des TV BZ ME, jeweils zum letzten Tag des Abrechnungsmonats. Der Anspruch auf die jeweilige Zahlung ist nach § 2 Abs. 2 TV IAP ME geregelt. Danach beträgt der Anspruch im Januar 2024 EUR 300 und in den Monaten Februar bis November 2024 jeweils EUR 200.

(2)

Randnummer67

Die tarifvertragliche Regelung kann nicht dahingehend verstanden werden, dass der Anspruch in voller Höhe besteht, wenn zum Abrechnungsstichtag ab Januar 2024 zwar die Voraussetzungen (Betriebszugehörigkeit fünf Monate, Einsatzzeit ein Monat) erfüllt sind, das Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt aber bereits beendet ist. Die Klägerin steht auf dem rechtlichen Standpunkt, dass sie Anspruch auf die Zahlung hat, weil ihr Arbeitsverhältnis erst nach Inkrafttreten des TV IAP ME beendet wurde und sie zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens die tarifvertraglichen Anforderungen erfüllte. Damit geht die Klägerin davon aus, dass die einzelnen monatlichen Zahlungen erst zu einem späteren Zeitpunkt fällig werden aber sofort entstanden sind.

Randnummer68

Diese Sichtweise ist unzutreffend. Sie steht in klarem Widerspruch zu der insoweit eindeutigen Regelung des Tarifvertrages. § 2 Abs. 1 TV IAP ME bestimmt, dass der Anspruch im Januar EUR 300 und in den Folgemonaten jeweils EUR 200 beträgt. Die Formulierung bringt klar zum Ausdruck, dass der Anspruch erst Ende Januar, Februar, März etc. anteilig in der genannten Höhe entstehen soll. Wenn zu dem Zeitpunkt kein Arbeitsverhältnis mehr zur Beklagten besteht, ist der persönliche Anwendungsbereich des Tarifvertrags schon nicht (mehr) eröffnet. Auch aus der Regelung § 3 Abs. 1 TV IAP ME ergibt sich nichts Anderes, wenn darin u.a. eine Betriebszugehörigkeit von fünf Monaten zum letzten Tag des jeweiligen Abrechnungsmonats zur Anspruchsvoraussetzung gemacht wird. Eine Betriebszugehörigkeit von einer gewissen Dauer zu einem bestimmten Zeitpunkt setzt zwangsläufig voraus, dass überhaupt noch eine Betriebszugehörigkeit besteht. Das ist aber nicht der Fall, wenn das Arbeitsverhältnis vor Januar 2024 beendet wurde. Es ist auch nicht zu erkennen, dass die Tarifparteien im Juni 2023 einen Anspruch ab Januar 2024 unabhängig vom Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses hätten regeln wollen. Der zeitliche Vorlauf spricht hingegen dafür, dass die Tarifparteien bei Abschluss des TV IAP ME den Zeitarbeitsunternehmen eine Umsetzungsfrist einräumen wollten, um diesen zu ermöglichen, die Inflationsausgleichsprämie in die Verhandlungen mit ihren Kunden einfließen zu lassen.

(3)

Randnummer69

Die tarifvertraglichen Voraussetzungen sind davon abgesehen aber auch nicht erfüllt. § 3 Abs. 1 S. 2 TV IAP ME verweist hinsichtlich der Unterbrechungszeiten auf § 2 Abs. 2 TV BZ ME. Danach sind für die Berechnung der Einsatzdauer von einem Monat Unterbrechungszeiten nur dann anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen. Bei längeren Unterbrechungen beginnt die Berechnung von vorn und der Arbeitnehmer muss erneut die Mindestdauer von einem Monat erreichen, um wieder Anspruch auf die Inflationsausgleichsprämie zu bekommen (vgl. Bissels, DB 2024, 390). Im Januar 2024 war der Einsatz der Klägerin bereits länger als drei Monate unterbrochen, so dass sie die Mindesteinsatzdauer des § 3 Abs. 1 TV IAP ME nicht erfüllt hat.

(4)

Randnummer70

Sofern danach noch Zweifel bestehen sollten, sind diese durch § 3 Abs. 2 TV IAP ME beseitigt. Darin ist nämlich bestimmt, dass eine Kürzung für Zeiten erfolgt, in denen sich Beschäftigte innerhalb eines grundsätzlich zu berücksichtigenden Monats nicht im Einsatz in einem Kundenbetrieb im Geltungsbereich des TV befinden. Sollte – entgegen der nach Ansicht des Gerichts klaren tarifvertraglichen Regelung und fehlenden Anspruchsvoraussetzung – ein Anspruch für die Monate ab Januar 2024 bereits mit Inkrafttreten des Tarifvertrags entstanden sein, stünden der Klägerin dennoch keine Zahlungsansprüche zu, weil sie mangels Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten jedenfalls ab Januar 2024 nicht mehr im Einsatz in einem Kundenbetrieb im Geltungsbereich des TV BZ ME stand und ein etwaiger Anspruch auf Null zu kürzen wäre.

3.

Randnummer71

Der klägerseitig geltend gemachte Anspruch ergibt sich auch nicht aus der von der Firma … ausgefüllten Erklärung (Anlage K2). Der Fragebogen enthält nicht den Erklärungsgehalt, dass die Beklagte trotz der tarifvertraglichen Abbedingung des § 8 Abs. 1 AÜG eine dem Grundsatz der Gleichstellung entsprechende Vergütung zahlen will. Vielmehr enthält der Fragebogen erkennbar Auskunft des Entleihunternehmens darüber, welche Entgeltbestandteile in welcher Höhe sie ihrer Stammbelegschaft gewährt. Es sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass hierin auch die Erklärung der Beklagten liegen soll, diese Entgeltbestandteile der Klägerin zu gewähren. Im Gegenteil: Um dem zu entgehen, wurde ja auf die Tarifverträge Bezug genommen.

4.

Randnummer72

Antrag Ziffer 3 ist nicht zur Entscheidung angefallen. Der Antrag war so auszulegen, dass er nur hilfsweise gestellt wird für den Fall des (teilweisen) Obsiegens mit den Anträgen zu Ziffer 1 und/oder Ziffer 2. Dies ergibt sich aus der Formulierung des Antrags und dem sich daraus abzuleitenden Interesse der Klägerin. Sie begehrt mit dem Antrag über die sich aus den Anträgen zu Ziffer 1 und Ziffer 2 ergebenden Zahlungen eine Abrechnung zu erhalten. Dies setzt voraus, dass die Klägerin mit mindestens einem der Anträge teilweise obsiegt.

II.

Randnummer73

Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 91 Abs. 1 ZPO. Die Klägerin unterliegt mit ihrem Klageantrag vollständig.

Randnummer74

Die Festsetzung des Streitwerts im Urteil erfolgte gemäß §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 3 ZPO in Höhe der geltend gemachten Forderung.

Randnummer75

Die Berufung war nach § 64 Abs. 3 Ziffer 2 lit. b) ArbGG zuzulassen, weil die Entscheidung auch auf der Auslegung des TV IAP ME beruht, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk des Arbeitsgerichts hinaus erstreckt.

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VonRA Moegelin

Kündigung einer Bonner Universitätsprofessorin

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Unwahre Angaben und Vorlage einer mit Plagiaten behafteten Veröffentlichung durch eine Professorin, und zwar schon im Bewerbungsverfahren, berechtigt die Universität zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Volltext der Pressemitteilung des Landesarbeitsgericht Köln vom 30. September 2025 – vgl. Urteil vom 16.05.2025 – 10 SLa 289/24:

Die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Köln hat mit einem am heutigen Tage verkündeten Urteil die Berufung einer Bonner Universitätsprofessorin gegen ein Urteil des Arbeitsgerichts Bonn zurückgewiesen. Damit wurde die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die beklagte Universität zum 31. März 2023 als sozial gerechtfertigt und wirksam bestätigt.

Das Landesarbeitsgericht entschied, die Klägerin sei bereits im Rahmen des Bewerbungsverfahrens verpflichtet gewesen, wahrheitsgemäße Angaben zu den Tatsachen zu machen, die ihre Eignung für die ausgeschriebene Stelle als Professorin begründen und nur solche Werke als habilitationsadäquate Arbeiten vorzulegen, die den Grundsätzen guter wissenschaftlicher Praxis entsprächen. Durch die Vorlage einer mit Plagiaten behafteten Veröffentlichung habe die Klägerin diese Pflichten verletzt. Nach Überzeugung der Kammer habe die Klägerin dabei zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Werk nicht den wissenschaftlichen Standards genügte. Dies sei insbesondere durch die Anzahl nicht ausreichend gekennzeichneter Übernahmen aus anderen Publikationen belegt.

Die Klägerin könne sich auch nicht darauf berufen, sie habe ihre Publikationen der beklagten Universität nur zur Prüfung durch die Berufskommission vorgelegt. Den maßgeblichen Begleitumständen sei jedenfalls konkludent die Erklärung zu entnehmen, dass diese Werke wissenschaftlichen Maßstäben entsprächen und keine Plagiate enthielten.

Das Gericht stellte klar, dass es sich bei der Einhaltung wissenschaftlicher Standards um eine zentrale Anforderung an das Berufsbild einer Hochschullehrerin handele. Die Pflichtverletzung der Klägerin betreffe den Kernbereich des Selbstverständnisses einer wissenschaftlich Tätigen und könne sich auch im Rahmen von Forschung und Lehre zukünftig auswirken. Verstöße gegen diese Standards, wie sie der Klägerin vorzuwerfen seien, wögen schwer und rechtfertigten die Kündigung – auch ohne vorherige Abmahnung. Die Interessenabwägung zwischen dem aufgrund der kurzen Beschäftigungsdauer nicht sehr ausgeprägten Bestandsschutz der Klägerin und dem Schutz der Integrität der Wissenschaft und Reputation der Universität falle zugunsten der Beklagten aus.

Das Gericht hat die Revision nicht zugelassen.

Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 16.05.2025 – 10 SLa 289/24

Dr. Schramm
Die Pressedezernentin des Landesarbeitsgerichts Köln

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VonRA Moegelin

Haftung eines Bankvorstands für risikoreiche Geschäfte

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Die Auszahlung von Dividenden und Dividendenkompensationsleistungen ohne Abzug von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag an eine gemeinnützige Gesellschaft, weil diese fremdfinanziert über ihr bei der Bank geführtes Depot Aktien im Gesamtwert von ca. 3,8 Mrd. € erworben und jeweils für nur wenige Tage über den Dividendenstichtag gehalten hat, führt zur Haftung des Bankvorstands, da es sich um ein risikobehaftetes Steuermodell handelt. Denn die Bank überwies ca. 141 Mio. € Dividenden und Dividendenkompensationsleistungen an die gemeinnützige Gesellschaft, was sodann in dieser Höhe vom Finanzamt gegenüber der Bank gefordert wurde.

Volltext der Pressemitteilung 07 des Landgerichts München I vom 07.08.2025:

Die 43. Zivilkammer des Landgerichts München I hat am 10.07.2025 ein ehemaliges Vorstandsmitglied einer in München ansässigen Bank zur Herausgabe/Zahlung von 1 Mio. € an den Kläger (hier: Insolvenzverwalter) verurteilt (Az. 43 O 18215/19). Außerdem hat das Gericht festgestellt, dass der Beklagte sämtliche Schäden zu ersetzen hat, die der Bank aufgrund eines risikobehafteten Steuermodells im Zusammenhang mit den streitgegenständlichen, durchgeführten Aktiengeschäften entstanden sind. Über das Vermögen der Bank wurde das Insolvenzverfahren eröffnet.

Die Bank hatte als Depotbank im Zeitraum zwischen April 2016 und Februar 2017 Dividenden und Dividendenkompensationsleistungen ohne Abzug von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag an eine gemeinnützige Gesellschaft ausgezahlt. Die Kapitalertragsteuer und der Solidaritätszuschlag hätten sich auf ca. 37,2 Mio. Euro belaufen. Die gemeinnützige Gesellschaft hatte (fremdfinanziert) über ihr bei der Bank geführtes Depot Aktien im Gesamtwert von ca. 3,8 Mrd. € erworben und jeweils für nur wenige Tage über den Dividendenstichtag gehalten. Insgesamt überwies die Bank ca. 141 Mio. € Dividenden und Dividendenkompensationsleistungen an die gemeinnützige Gesellschaft.

Das Finanzamt nahm die Bank deswegen in Haftung. Das daraufhin eingeleitete finanzgerichtliche Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Nach Erlass des Haftungsbescheides im März 2018 ist das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Bank eröffnet worden.

Der klagende Insolvenzverwalter hatte geltend gemacht, die beiden ehemaligen Vorstandsmitglieder der Bank hätten sich über Bedenken der hauseigenen Compliance-Abteilung hinweggesetzt, das risikobehaftete Steuermodell durchgeführt und dadurch dem Vermögen der Bank geschadet. Der Beklagte habe dafür, dass er das Geschäft ermöglicht habe, über diverse ausländische Firmen eine Zahlung von 1 Mio. Euro erhalten, die die gemeinnützige Gesellschaft geleistet habe. Auch diese Zahlung müsse er an den Kläger herausgeben.

Das beklagte ehemalige Vorstandsmitglied ist der Auffassung, die Bank sei nicht verpflichtet gewesen, die auf die Dividenden entfallende Kapitalertragsteuer einzubehalten. Eine Entscheidung des Bundefinanzhofs in einem ähnlich gelagerten Fall zeige indiziell, dass ihm ein Vorwurf nicht gemacht werden könne.

Über steuerrechtliche Fragen hat das Landgericht München I nicht entschieden. Das Gericht hat sich jedoch mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Vorstand durch die Beteiligung der Bank an dem streitgegenständlichen Geschäftsmodell seine Sorgfaltspflichten aus dem Aktiengesetz verletzt habe und dies bejaht. Das Gericht hat daher einen Schadenersatzanspruch der Bank gegen den eigenen Vorstand festgestellt. Zwar gebe es keine Pflicht des Vorstands, niemals existenzgefährdende Risiken einzugehen. In dem zu entscheidenden Fall sei die Insolvenz der Bank jedoch aus objektiver Sicht zu wahrscheinlich gewesen, als dass der Vorstand dieses Risiko hätte eingehen dürfen. Auch für den Fall einer im Nachhinein günstigen Entscheidung des Bundesfinanzhofs sei bereits zum Zeitpunkt der Vornahme der Geschäfte absehbar gewesen, dass ein Haftungsbescheid des Finanzamts die Insolvenz der Bank herbeiführen würde. Auf das Ergebnis eines Rechtsgutachtens hätte sich der Vorstand insoweit nicht verlassen dürfen, da auch darin Restrisiken erkennbar waren. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Banken verpflichtet seien, bei bestehender Ungewissheit über die Rechtslage sicherheitshalber den Steuerabzug vorzunehmen.

Darüber hinaus sei der Beklagte auch verpflichtet, die im Zusammenhang mit den Geschäften erhaltene Zahlung von 1 Mio. € an die Bank herauszugeben.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Zum Hintergrund:

1.
Das hier zu Grunde liegende Steuermodell ist aus sog. „cum/cum“-Geschäften entwickelt worden. Es sieht vor, dass eine gemeinnützige Gesellschaft Aktien über den Dividendenstichtag erwirbt. In diesem Fall, so die zugrunde liegende Annahme, darf die Depot führende Bank als auszahlende Stelle die Dividende ohne Abzug von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag auszahlen. Um ein Steuermodell handelt es sich deshalb, weil die gemeinnützige Gesellschaft die Aktien jeweils nur für wenige Tage über den Dividendenstichtag erwirbt und danach sofort wieder veräußert. Während der Haltedauer sichert sie sich zudem gegen Kursrisiken durch Gegengeschäfte ab.

2.
Das Finanzamt München und das Finanzgericht München sind der Auffassung, dass die Bank die auf die dividendenbezogenen Zahlungen entfallende Kapitalertragsteuer samt Solidaritätszuschlag im Umfang von etwa 37,2 Mio. € hätte abführen müssen und für die Verletzung dieser Pflicht hafte. Insbesondere sei für die Bank klar erkennbar gewesen, dass die gemeinnützige Gesellschaft die Aktientransaktionen nicht im Rahmen ihres Satzungszwecks durchgeführt und damit gemeinnützigkeitsschädlich gehandelt habe.

3.

Das Hauptsacheverfahren gegen den Haftungsbescheid ist noch nicht abgeschlossen. Es steht daher weiterhin nicht fest, ob die Bank endgültig für die Beträge haften muss. Im Zuge eines Parallelverfahrens betreffend die Vorauszahlung von Körperschaftsteuer hat der Bundesfinanzhof mit Beschluss vom 04.03.2020 einer Beschwerde der dort involvierten gemeinnützigen Gesellschaft stattgegeben.

Verfasser der Pressemitteilung:

Richter am Landgericht München I Dr. Jens Kröger, LL.M. – stellvertretender Pressesprecher

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VonRA Moegelin

Verbot zum Schwangerschaftsabbruch

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Die arbeitgeberseitige Weisung im Krankenhaus grundsätzlich keine Schwangerschafts- Abbrüche mehr durchzuführen, es sei denn, es handelt sich um medizinisch notwendige Maßnahmen der hier einschlägigen Dienstanweisung „Gynäkologie“, mag gesellschaftspolitisch und moralisch verfehlt sein. Die katholische Kirche als Grundrechtsträgerin ist jedoch berechtigt, so eine Dienstanweisung zu erteilen. Sie entspricht auch dem ständigen und aktuellen Selbstverständnis der katholischen Kirche

Volltext des Urteils vom 08.08.2025 des Arbeitsgerichts Hamm – 2 Ca 182/25:

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahren werden dem Kläger auferlegt.

3. Der Streitwert wird auf 20.000,00 € festgesetzt.

1

T a t b e s t a n d

2

Mit der am 13.2.2025 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger nach Antragsänderung (Bl. 131 d. GA) noch die Feststellung, dass die Dienstanweisung Gynäkologie der Rechtsvorgängerin der Beklagten vom 15.01.2025 (Bl. 54 f. d. GA), die dem Kläger rechtmäßige Schwangerschaftsabbrüche wegen medizinischer Indikationen untersagt, rechtswidrig und unwirksam ist sowie die Feststellung, dass die Dienstanweisung der Rechtsvorgängerin der Beklagten vom 15.01.2025 mit der Überschrift Konkretisierung Nebentätigkeit (Bl. 56 d. GA), die dem Kläger die Durchführung rechtmäßiger Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Indikation untersagen will sowohl im Rahmen seiner kassenärztlichen Zulassung für die von ihm betriebene Praxis in Bielefeld als auch für seine Tätigkeit im Krankenhaus der Beklagten rechtswidrig und unwirksam ist.
3

Der am 2.3.1958 geborene Kläger ist seit dem 1.8.2012 bei der A gGmbH als leitender Arzt und Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe beschäftigt. Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Dienstvertrag vom 6.3.2014 (Bl. 57 ff. d. GA). Dort heißt es, soweit von Interesse wie folgt:
4

§ 2. Stellung des Arztes
5

…
6

2. Der Arzt ist an die Weisungen des Krankenhausträgers und des Ärztlichen Direktors des Krankenhauses gebunden. Seine ärztliche Verantwortung bei der Diagnostik und Therapie bleibt hiervon unberührt. Er ist zur Zusammenarbeit mit dem Krankenhausträger, den leitenden Abteilungsärzten und Belegärzten, dem kaufmännischen Direktor und dem Pflegedirektor verpflichtet. Der Krankenhausträger wird den Arzt vor wichtigen Entscheidungen, die seinen Aufgabenbereich betreffen, hören und nach Möglichkeit ein Einvernehmen herstellen (z.B. Kooperationen mit niedergelassenen Ärzten).
7

§17 Tätigkeit außerhalb der Dienstaufgaben
8

Jede Tätigkeit außerhalb der Dienstaufgaben bedarf der schriftlichen Zustimmung des
9

Krankenhausträgers (Nebentätigkeitserlaubnis). …
10

§18 Vertragsdauer, Kündigung …
11

4. Der Vertrag endet ohne Kündigung mit Erreichung der im BAT-KF in der jeweils gültigen Fassung festgelegten Altersgrenze oder mit Ablauf des Monats, in welchem dem Arzt der Bescheid über eine vom Rentenversicherungsträger oder von einer anderen
12

Versorgungseinrichtung festgestellte Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zugestellt wird….“
13

Mit Nebentätigkeitserlaubnis 29.2.2012 (Bl. 144 f. d. GA) teilte die A GmbH dem Kläger Folgendes mit:
14

„… wird … die Erlaubnis zur Ausübung nachfolgender Nebentätigkeiten erteilt, soweit diese Tätigkeiten nicht Dienstaufgaben sind.
15

1. Zu den Nebentätigkeiten gehören:
16

-ambulante Behandlung und Beratung
17

-privatambulante Sprechstunde
18

-Tätigkeiten im Rahmen ambulanter Ermächtigungen …
19

2. Durch die Ausübung dieser Nebentätigkeiten dürfen die Dienstaufgaben sowie der allgemeine Dienstbetrieb im Krankenhaus nicht beeinträchtigt werden. …
20

6. Die Nebentätigkeitserlaubnis kann widerrufen oder beschränkt werden, wenn triftige Gründe vorliegen, insbesondere wenn …
21

– die Änderung der Rechtslage dies erfordert. …
22

7. Bei einem Widerruf der Erlaubnis oder deren Einschränkung steht dem Arzt kein Ausgleichs- oder Schadensersatzanspruch gegen den Krankenhausträger zu. …“
23

Mit Dienstanweisung Gynäkologie vom 15.1.2025 (Bl. 54 f. d. GA) teilte das A B dem Kläger Folgendes mit:
24

„Dienstanweisung Gynäkologie
25

Betreff: Untersagung der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen
26

„1. …
27

Die A B gemeinnützige GmbH überträgt den gesamten Betrieb … im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf die C gem. GmbH als Abspaltung zur Aufnahme …. Zukünftig wird unsere gemeinsame Gesellschaft den Namen D haben. Gemäß dem Gesellschaftsvertrag … sind wir verpflichtet, die katholischen Belange hinsichtlich der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zu beachten. Demgemäß ist es nicht gestattet, Schwangerschaftsabbrüche in dieser Einrichtung durchzuführen….
28

3. Grundsatzentscheidung
29

Schwangerschaftsabbrüche dürfen in der Klinik nicht durchgeführt werden. …
30

4. Ausnahmen bei medizinisch notwendigen Maßnahmen
31

Ausnahme bildet die Situation, dass Leib und Leben der Mutter bzw. des ungeborenen Kindes akut bedroht sind, wenn es keine medizinisch mögliche Alternative gibt, mit der das Leben des ungeborenen Kindes gerettet werden könnte. Diese Ausnahmen müssen begründend dokumentiert und der Geschäftsführung bekannt gegeben werden. …
32

7. Inkrafttreten
33

Diese Dienstanweisung tritt zum 01.02.2025 in Kraft und ist verbindlich. …“
34

Mit weiterem Schreiben vom 15.1.2025 (Bl. 56 d. GA) teilte das A B GmbH dem Kläger Folgendes mit:
35

„… Konkretisierung Nebentätigkeit
36

Betreff: Keine Erlaubnis zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen im Zusammenhang mit ihrer Nebentätigkeit
37

… Gemäß dem Gesellschaftsvertrag… verankerten christlich-ökumenischem Profil sind wir verpflichtet, die katholischen Belange hinsichtlich der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zu beachten. Die Ihnen erteilte Nebentätigkeitserlaubnis … wird hiermit mit Wirkung ab dem 01.02.2025 dahingehend konkretisiert und beschränkt, dass von der Erlaubnis die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen weder derzeit noch zukünftig umfasst sein wird. …“
38

Im Gesellschaftsvertrag „D“, abgeschlossen zwischen den Gesellschaftern der -katholischen- C gGmbH sowie den Gesellschaftern der A B gGmbH heißt es, soweit von Interesse (vgl. Bl. 72 ff. d. GA) wie folgt:
39

„… Die Gesellschafter der C gem. GmbH, B, sowie die Gesellschafter der A B GmbH haben sich … entschieden, die in ihrer jeweiligen Rechtsträgerschaft geführten kirchlichen Krankenhäuser … im Rahmen dieser Gesellschaft als gemeinsame Trägergesellschaft zu führen. … Die von der Gesellschaft geführten Krankenhäuser … erbringen ihre Leistungen im Sinne der Diakonie … und im Sinne der Caritas …unter Zugrundelegung des nachfolgenden christlichen Menschenbildes:
40

…
41

§ 17 Kirchlichkeit -christlich-ökumenisches Profil
42

… Die besonderen Anforderungen und Erfordernisse beider Konfessionen an die Kirchlichkeit ihrer Einrichtungen sind stets durch die Organe der Gesellschaft und ihre Gesellschafter wie nachfolgend dargestellt sicherzustellen. …
43

2. Grundordnung, Datenschutz und Prävention
44

a) Die Gesellschaft hat die jeweils aktuelle, vom E von F in Kraft gesetzte Fassung der Grundordnung des kirchlichen Dienstes , … die Kirchliche Arbeits- und Vergütungsordnung (KAVO) … zu beachten und anzuwenden. …
45

6. Schwangerschaftsabbrüche, Sterbehilfe
46

Die Gesellschafter stimmen überein, dass die katholischen Belange hinsichtlich der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen … wie nachfolgend dargelegt beachtet werden sollen. Die Einhaltung dieser Regelungen sind durch entsprechende Einschränkung der Nebentätigkeitserlaubnis betroffener angestellter Ärzte sicherzustellen. …
47

48

a. SchwangerschaftsabbrücheIn den Einrichtungen der Gesellschaft und in Einrichtungen der mit der Gesellschaft gesellschaftsrechtlich verbundenen Unternehmen … werden mit Beurkundung dieses Vertrages keine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Ausnahme bildet die Situation, dass Leib und Leben der Mutter bzw. des ungeborenen Kindes akut bedroht sind und es keine medizinisch mögliche Alternative gibt, mit der das Leben des ungeborenen Kindes gerettet werden könnte. …
49

b. …
50

c. Verpflichtung der Gesellschafter Die Gesellschafter verpflichten sichaa. In deren eigenen Einrichtungen … weder Schwangerschaftsabbrüche noch Suizidassistenzen … vorzunehmen… Sofern und soweit am Tage der Beurkundung ein entsprechendes Leistungsangebot noch besteht, wird dieses bis zum Wirksamwerden der Verschmelzung beendet. …

51

In § 10 KAVO NW – Nebentätigkeiten heißt es wie folgt:
52

( 1 ) Nebentätigkeiten gegen Entgelt haben die Mitarbeiter ihrem Dienstgeber rechtzeitig vorher schriftlich anzuzeigen. Der Dienstgeber kann die Nebentätigkeit untersagen oder mit Auflagen versehen, wenn diese geeignet ist, die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten der Mitarbeiter oder berechtigte Interessen des Dienstgebers zu beeinträchtigen.
53

( 2 ) Die Ausübung einer Nebentätigkeit ist unzulässig, wenn
54

1. durch die Ausübung der Tätigkeit gegen ein Gesetz, eine Rechtsverordnung, die Grundordnung in ihrer jeweils geltenden Fassung, sonstige kircheneigene Ordnungen oder sonstiges geltendes Recht verstoßen wird bzw. würde,
55

2. die Tätigkeit zu einer Beeinträchtigung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung des Mitarbeiters führt,
56

3. die Tätigkeit den Mitarbeiter in Widerstreit zu seinen dienstlichen Pflichten im Hauptarbeitsverhältnis bringt oder
57

4. die Tätigkeit mit dem Ansehen des kirchlichen Dienstes nicht vereinbar ist.
58

Ist der Dienstgeber der Auffassung, dass die Nebentätigkeit unzulässig ist, so hat er dies dem Mitarbeiter unter Angabe von Gründen mitzuteilen.
59

( 3 ) Der Mitarbeiter bedarf der vorherigen Zustimmung für die Inanspruchnahme von Einrichtungen, Personal und Material des Dienstgebers seines Hauptarbeits- oder Nebentätigkeitsverhältnisses bei der Ausübung der Nebentätigkeit. Mit der Zustimmung ist ein angemessenes Entgelt festzusetzen.
60

In Artikel 2 Absatz 2 GG heißt es, soweit von Interesse wie folgt:
61

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. … In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.
62

In § 218 StBG -Schwangerschaftsabbruch- heißt es, soweit von Interesse wie folgt:
63

(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. …
64

In § 218 a StBG -Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs- heißt es, soweit von Interesse wie folgt:
65

(1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn
66

1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,
67

2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
68

3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
69

(2) Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. …
70

(4) Die Schwangere ist nicht nach § 218 strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach Beratung (§ 219) von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind. Das Gericht kann von Strafe nach § 218 absehen, wenn die Schwangere sich zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis befunden hat.
71

In Art. 137 Weimarer Reichsverfassung (zukünftig WRV) heißt es wie folgt:
72

(1) Es besteht keine Staatskirche.
73

(2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluss von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen.
74

(3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.
75

(4) Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes.
76

In Art. 140 GG heißt es, soweit von Interesse wie folgt:
77

„Die Bestimmungen der Artikel …137 … der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“
78

Der Kläger meint, sowohl die Dienstanweisung Gynäkologie vom 15.1.2025 wie auch das seine Nebentätigkeit beschränkende Schreiben des Beklagten vom 15.1.2025 seien rechtsunwirksam. Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischen Gründen, etwa um das Leben und die Gesundheit der Schwangeren zu schützen, seien legal und notwendig; die Beklagte sei nicht berechtigt, dem Kläger solche Eingriffe zu verbieten, zumal wegen der „Reduzierung“ von evangelischen und kommunalen Krankenhäusern und des Anwachsens der Zahl von katholischen Einrichtungen ansonsten zu befürchten sei, dass Schwangere ein schwerstbehindertes und möglicherweise nicht lebensfähiges Kind zur Welt bringen „müssten“, weil sie niemanden finden, der den gesetzlich erlaubten und nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch durchführe. Im Übrigen sei aufgrund der bisherigen im Betrieb gelebten Abtreibungspraxis eine betriebliche Übung entstanden, die durch erneute Ausübung des Direktionsrechts nicht beseitigt werden könne. Auch könne die erteilte und bestehende Nebentätigkeitsgenehmigung durch die Beklagte nicht beschränkt werden.
79

Auch könne sich die Beklagte auf römisch-katholische Vorgaben zum Schwangerschaftsabbruch bereits deshalb nicht berufen, weil die Beklagte sowohl einen katholischen wie auch einen evangelischen Träger (Gemeinschaftskrankenhaus) habe.
80

Der Kläger behauptet erstmals im Kammertermin vom 8.8.2025, bei Abschluss des ersten Dienstvertrages mit dem Krankenhaus habe er mit dem damaligen Geschäftsführer G besprochen, dass er nur dann die Position des Chefarztes übernehmen werde, wenn medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche mit entsprechenden Indikationen entsprechend des § 218 a StGB durchführen dürfe. Der damalige Geschäftsführer habe sich damit einverstanden
81

erklärt und dies durch eine entsprechende Formulierung in § 2 Abs. 2 des Dienstvertrages festgelegt.
82

Der Kläger beantragt,
83

1. festzustellen, dass die Dienstanweisung Gynäkologie der Beklagten vom 15.01.2025, die dem Kläger rechtmäßige Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Indikation untersagen will, rechtswidrig und unwirksam ist;
84

2. festzustellen, dass die Dienstanweisung der Beklagten vom 15.01.2025 mit der Überschrift Konkretisierung Nebentätigkeit, die dem Kläger die Durchführung rechtmäßiger Schwangerschaftsabbrüche aus medizinischer Indikation untersagen will sowohl in seiner kassenärztlichen Zulassung für seine Praxis in H als auch für seine kassenärztliche Ermächtigung im Krankenhaus rechtswidrig und unwirksam ist.
85

Die Beklagte beantragt,
86

die Klage abzuweisen.
87

Die Beklagte meint, der Kläger habe keinen Rechtsanspruch, während der Arbeitszeit legale Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Der Arbeitgeber sei berechtigt, selbst zu bestimmen, welche medizinischen „Leistungen“ er anbieten möchte und welche eben künftig nicht mehr. Eine anderslautende „betriebliche Übung“ sei nicht entstanden und habe auch gar nicht entstehen können. Das Arbeitsverhältnis sei nämlich davon geprägt, dass der Arbeitgeber kraft Direktionsrechts (§ 106 GewO) autonom entscheide, welche vertragsgemäßen Leistungen er gegenüber Dritten anbiete und welche Arbeiten er seinen Mitarbeitern zuweise. Die dem Kläger erteilte Nebentätigkeitsgenehmigung sei zurecht beschränkt worden. Die konfessionell gebundene Beklagte sei auch berechtigt gewesen, dem Kläger mit Wirkung für die Zukunft vorsorglich zu untersagen, in der von ihm privat betriebenen Arztpraxis Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen quasi in Umgehung des Verbotes zur Durchführung von Abtreibungen während der Arbeitszeit im Betrieb der Beklagten.
88

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen sowie die Terminprotokolle.
89

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
90

Die zulässige Feststellungsklage (§ 46 Absatz 2 ArbGG i. V. m. § 256 Absatz 1 ZPO) ist unbegründet.
91

Der Kläger hat bereits deshalb keinen Anspruch auf die Feststellung, dass die Dienstanweisungen der Rechtsvorgängerin der Beklagten vom 15.1.2025 rechtswidrig und unwirksam sind, weil sie unter Berücksichtigung auch verfassungsrechtlicher und strafrechtlicher Grundsätze rechtmäßig sind.
92

Dabei geht die erkennende Kammer davon aus, dass die innerhalb der Fristen des § 218 a StGB durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche allein aus medizinischen und gerade nicht sozialen Gründen wegen der Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Schwangeren oder des ungeborenen Lebens nach staatlichem Recht möglicherweise nicht strafbar, gleichwohl aber rechtswidrig sind. Ob diese verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen heute noch „zeitgemäß“ sind, hatte die Kammer nicht zu entscheiden.
93

Unter Berücksichtigung dessen war die Beklagte als Trägerin eines -nunmehr- katholisch geführten Krankenhauses aufgrund ihres verfassungsrechtlich geschützten Selbstverständnisses (Art. 137 WRV i. V. m. Art 140 GG) aber auch unter Berücksichtigung von Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG berechtigt, den Kläger kraft Ausübung des Direktionsrechts (§ 106 GewO) anzuweisen, künftig während der Arbeitszeit im Krankenhaus keine Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, es sei denn, Leib und Leben der Mutter bzw. des ungeborenen Lebens sei akut bedroht und es gebe keine medizinische Möglichkeit, das Leben des ungeborenen Kindes zu retten.
94

Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers war auch die Betriebsveräußerin bereits vor Vollziehung aber nach Planung des Betriebsübergangs entsprechend der zwischen ihr und der Beklagten vereinbarten gesellschaftsvertraglichen Regelungen berechtigt, das Direktionsrecht mit Wirkung für die Zukunft, somit für die Zeit nach dem Betriebsübergang auf die Beklagte des Verfahrens auszuüben und zwar unabhängig davon, ob auch die Beklagte nach dem Betriebsübergang dazu berechtigt gewesen wäre.
95

Im Einzelnen gilt Folgendes:
96

1.
97

Nach dem gemäß Art 140 GG i. V. m Art. 137 WRV verfassungsrechtlich geschützten Selbstverständnis der katholischen Kirche ist -das mag man gesellschaftspolitisch bedauern oder nicht- ein Schwangerschaftsabbruch auch aus medizinischen Gründen grundsätzlich unzulässig.
98

2.
99

Die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerin waren gemäß § 106 Sätze 1 und 2 GewO berechtigt, dem Kläger zukünftig zu untersagen, Schwangerschaftsabbrüche in der Klinik sowie -vorsorglich- auch in der von ihm privat betriebenen Arztpraxis durch Beschränkung der Nebentätigkeitsgenehmigung zu untersagen.
100

Nach dieser Vorschrift ist der Arbeitgeber berechtigt, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher zu bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzlicher Vorschriften festgelegt sind (ständige Rechtsprechung des BAG; vgl. statt aller BAG, Urteile v. 19.9.2023 -1 AZR 281/22, 19.9.2018 -5 AZR 439/17 und 14.11.2012 -5 AZR 886/11). Dazu gehört auch die Weisung, bestimmte ärztliche Leistungen künftig nicht (mehr) zu erbringen.
101

Der im Klinikum -vollzeitbeschäftigte- Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, im Rahmen der erteilten und nunmehr von der Beklagten vorsorglich beschränkten Nebentätigkeitsgenehmigung Schwangerschaftsabbrüche in der von ihm privat betriebenen Arztpraxis durchzuführen.
102

Insoweit gilt Folgendes:
103

a.
104

Die Weisung der Rechtsvorgängerin der Beklagten, zukünftig im Krankenhaus grundsätzlich keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchzuführen, es sei denn, es handele sich um medizinisch notwendige Maßnahmen i.S.v. Ziffer 4 der Dienstanweisung Gynäkologie vom 15.1.2025 mag aus Sicht des Klägers gesellschaftspolitisch und moralisch verfehlt sein. Die katholische Kirche als Grundrechtsträgerin bzw. deren Rechtsvorgängerin aufgrund vertraglicher Abreden mit der Beklagten war entgegen der Rechtsauffassung des Klägers gleichwohl berechtigt, sie zu erteilen. Sie entspricht auch dem ständigen und aktuellen Selbstverständnis der katholischen Kirche (vgl. aktuelle Erklärung der dt. Bischofskonferenz vom 23.4.2024 mit dem Titel „Gott ist ein Freund des Lebens“) sowie der.
105

b.
106

Eine der Weisung zugunsten des Klägers entgegenstehende „betriebliche Übung“ liegt nicht vor.
107

Mit der ständigen Rechtsprechung des BAG geht die erkennende Kammer davon aus, dass eine betriebliche Übung vorliegen kann, wenn der Arbeitgeber regelmäßig und wiederholt durch bestimmte Verhaltensweisen nach dem Empfängerhorizont bei den Arbeitnehmern die berechtigte Erwartung erzeugt, ihnen solle eine vertragliche nicht vereinbarte Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden.
108

Aus diesem als „kollektives“ Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, dass von den Arbeitnehmern regelmäßig stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen für die Zukunft.
109

Entscheidend ist dabei nicht, ob der Erklärende einen Verpflichtungswillen hatte, sondern ob der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) dahin verstehen konnte und durfte, der Arbeitgeber wolle sich zu einer über seine gesetzlichen, tarifvertraglichen und arbeitsvertraglichen Pflichten hinausgehenden Leistung verpflichten (st. Rspr., etwa BAG, 19.9.2023 -1 AZR 281/22, BAG, 19.9.2018 -5 AZR 439/17; BAG, 24.2.2016 -4 AZR 990/13; BAG, 13.5.2015 -10 AZR 266/14; BAG, 17.4.2013 -10 AZR 251/12; BAG, 29.8.2012 -10 AZR 571/11, BAG, 14.09.2011 – 4 AZR 526/10; BAG, 08.12.2010 – 10 AZR 671/09; LAG Hamm, 18.01.2013 – 15 Sa 876/12,).
110

Dies ist im Wege der Auslegung des Verhaltens des Arbeitgebers zu ermitteln. Dabei bestimmen sich die Anforderungen an den Erklärungswert nach der Art des Verhaltens des Vertragspartners, das eine betriebliche Übung begründen soll.
111

Unter Berücksichtigung dessen liegt offensichtlich keine betriebliche Übung dergestalt vor, dass dem Kläger in Abweichung vom gem. § 106 GewO eröffneten Direktionsrecht dauerhaft erlaubt worden sein soll, am Arbeitsplatz Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.
112

Es fehlt nämlich bereits an einer Leistung oder Vergünstigung durch die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin sowie an einem nach außen erkennbaren objektiven Rechtsbindungswillen der Rechtsvorgängerin der Beklagten oder der Beklagten für die Zukunft.
113

Stattdessen hat die Rechtsvorgängerin der Beklagte gemäß § 106 GewO lediglich die vom Kläger zukünftig nach Betriebsübergang zu erbringende Arbeitsleistung in zulässiger Art und Weise neu bestimmt.
114

c.
115

Auch die vorsorglich erklärte Weisung bzw. Einschränkung der dem Kläger erteilten Nebentätigkeitsgenehmigung durch die Rechtsvorgängerin der Beklagten dahingehend, auch insoweit keine Schwangerschaftsabbrüche (mehr) vorzunehmen, hält einer gerichtlichen Überprüfung stand.
116

Dabei ist es irrelevant, ob der Kläger in der Vergangenheit in seiner Privatpraxis überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt hat; die Kammer geht nach dem von den Parteien vorgetragenen Sachverhalt davon aus, dass dies bisher nicht der Fall war.
117

Denn nach § 10 Absatz 2 Ziffer 1 KAVO NW wäre eine solche Nebentätigkeit, sollte er sie ausgeführt haben unter Berücksichtigung des oben Gesagten wegen Verstoßes gegen die Grundordnung der katholischen Kirche nicht (mehr) genehmigungsfähig.
118

d.
119

Zugunsten des Klägers ist eine betriebliche Übung dahingehend, dass es ihm auch zukünftig erlaubt sei, am Arbeitsplatz oder in der von ihm betriebenen Praxis Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, nicht entstanden. Aus Rechtsgründen konnte eine solche betriebliche Übung nämlich gar nicht entstehen. Es handelt sich weder um eine Leistung noch eine Vergünstigung des Klägers durch die Rechtsvorgängerin der Beklagten, sondern nur um die Konkretisierung der Arbeitspflicht (§ 106 GewO).
120

Der sich auf eine ihm günstige betriebliche Übung berufende Arbeitnehmer ist darlegungspflichtig für eine Mitteilung oder sonstige Verhaltensweise des Arbeitgebers an bzw. gegenüber der Belegschaft oder Teilen der Belegschaft, aus der die Beschäftigten nach Treu und Glauben schließen durften, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden (vgl. BAG, Urteil vom 19.9.2023 -1 AZR 281/22). Für den Anspruch aus betrieblicher Übung ist unerheblich, ob der betreffende Arbeitnehmer selbst bisher schon in die Übung einbezogen worden ist. Sie richtet sich an alle Beschäftigten eines Betriebs oder zumindest kollektiv abgrenzbare Gruppen. Das Vertragsangebot des Arbeitgebers ist regelmäßig so zu verstehen, dass er – vorbehaltlich besonderer Abreden – alle Arbeitnehmer zu den im Betrieb üblichen Bedingungen beschäftigen will.
121

Unter Berücksichtigung dessen ist eine betriebliche Übung dahingehend, dem Kläger im Krankenhaus oder der von ihm betriebenen Arztpraxis medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche zu gestatten, nicht entstanden.
122

aa.
123

Hinsichtlich der Erlaubnis zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch den Kläger in der von ihm privat betriebenen Praxis kann eine betriebliche Übung bereits deshalb nicht entstanden sein, weil der Kläger nicht einmal behauptet hat, dort solche medizinischen Maßnahmen in der Vergangenheit bereits in Kenntnis und mit Wissen und Wollen bzw. Erlaubnis der Rechtsvorgängerin der Beklagten durchgeführt zu haben.
124

bb.
125

Auch in der Duldung von vom Kläger im Krankenhaus durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen durch die Rechtsvorgängerin der Beklagten kann eine betriebliche Übung nicht entstanden sein. Es fehlt bereits an einem kollektiven Tatbestand sowie einer „Leistung“ an den Kläger durch die Rechtsvorgängerin der Beklagten.
126

Mit der Rechtsprechung des BAG geht die Kammer davon aus, dass der sich auf eine ihm günstige betriebliche Übung berufende Arbeitnehmer darlegungspflichtig für eine Mitteilung oder sonstige Verhaltensweise des Arbeitgebers an die bzw. gegenüber der Belegschaft ist, aus der die Beschäftigten oder eine Beschäftigtengruppe nach Treu und Glauben schließen durften, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden (vgl. statt aller BAG, Urteil vom 14.11.2012 -5 AZR 886/11). Dabei ist es für den Anspruch aus betrieblicher Übung unerheblich, ob der betreffende Arbeitnehmer selbst bisher schon in die Übung einbezogen worden ist. Sie richtet sich an alle Beschäftigten eines Betriebs oder zumindest kollektiv abgrenzbare Gruppen. Das Vertragsangebot des Arbeitgebers ist regelmäßig so zu verstehen, dass er – vorbehaltlich besonderer Abreden – alle Arbeitnehmer zu den im Betrieb üblichen Bedingungen beschäftigen will (vgl. BAG, Urteil vom 19.9.18, 5 AZR 439/17).
127

Unter Berücksichtigung dessen ist für die Kammer bereits kein kollektiver Tatbestand feststellbar; es geht ausschließlich um die Bestimmung der konkreten Tätigkeit bzw. der zukünftig eingeschränkten Tätigkeit des Klägers im Rahmen des bestehenden Arbeitsverhältnisses und des durch die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin ausgeübten und nicht beschränkten Direktionsrechts (§ 106 GewO).
128

e.
129

Die Weisung der Rechtsvorgängerin der Beklagten gegenüber dem Kläger, weder im Krankenhaus noch in der von ihm betriebenen Arztpraxis Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, ist entgegen der Rechtsansicht des Klägers auch unter Berücksichtigung von §613 a Absatz 1 Sätze 1 und 2 BGB nicht zu beanstanden.
130

Zugunsten des Klägers geht die Kammer davon aus, dass der Betrieb gem. § 613 a Absatz 1 Satz 1 BGB auf die Beklagte dieses Verfahrens übergegangen ist. Demgemäß ist die Beklagte kraft Gesetzes in die Rechtstellung der ursprünglichen Inhaberin eingetreten. Sie war somit grundsätzlich berechtigt, als Arbeitgeberin das Direktionsrecht gem. § 106 GewO auszuüben sowie die Arbeitsleistung nach Weisung und unter Berücksichtigung billigen Ermessens näher zu bestimmen.
131

Nichts Anderes hat die Rechtsvorgängerin der Beklagten in zulässiger Art und Weise vorsorglich getan, indem Sie die dem Kläger erteilte Nebentätigkeitsgenehmigung und die von ihm zu erbringende Arbeitsleistung im Krankenhaus bereits vor Vollzug des Betriebsübergangs aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit der Beklagten beschränkt bzw. neu bestimmt hat.
132

Irgendwelche rechtlichen Beschränkungen der Rechtsvorgängerin der Beklagten aufgrund bereits vor dem Betriebsübergang bestehender „Rechte“ des Klägers sind für die Kammer nicht erkennbar.
133

Im Gegenteil ergibt sich aus § 106 GewO, dass der -jeweilige- Arbeitgeber berechtigt ist, das Direktionsrecht auszuüben (Regel) es sei denn, das Arbeitsverhältnis hat sich etwa hinsichtlich der vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitsleistung „konkretisiert“ (Ausnahme). Dazu fehlt jeglicher Vortrag des Klägers.
134

Gleiches gilt für die Beschränkung der dem Kläger erteilten Nebentätigkeitsgenehmigung, zumal ihm dadurch keine Rechte genommen werden konnten und zwar allein deshalb, weil er weder behauptet noch konkret dargelegt hat, in der von ihm betriebenen Arztpraxis in der Vergangenheit bereits Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt zu haben.
135

f.
136

Auch unter Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben (vgl. BAG, Urteil vom 20.2.2019 -2 AZR 746/14 sowie EuGH, Urteil vom 11.9.2018 (-C-68/17)) ergibt sich nichts Anderes. Denn anders als im vom BAG und Europäischen Gerichtshof entschiedenen Fall geht es hier nicht um einen vermeintlichen „Loyalitätsverstoß“ des Klägers im außerdienstlichen Verhalten durch „Wiederheirat“ nach zuvor erfolgter Scheidung, sondern allein um die im Rahmen der Ausübung des Direktionsrechts (§ 106 GewO) erfolgte Anweisung, welche Tätigkeiten der Kläger zukünftig noch bzw. nicht mehr ausüben darf.
137

g.
138

Die Tatsache, dass die Klinik betrieben wird sowohl von einem katholischen wie einem evangelischen Träger, ändert entgegen der Rechtsansicht des Klägers an der Rechtslage im Ergebnis nichts; denn jedenfalls ist auch ein Arbeitgeber, der sich möglicherweise nicht auf den besonderen Status mit bestehenden Rechten und Pflichten der katholischen Kirche Art 137 WRV i. V. m. § 140 GG berufen kann, selbstverständlich berechtigt, zu entscheiden, dass im Betrieb Schwangerschaftsabbrüche nur eingeschränkt durchgeführt werden. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 106 Sätze 1 und 2 GewO.
139

h.
140

Soweit der Kläger erstmals im Kammertermin vom 8.8.2025 erklärt hat, bei Abschluss des Dienstvertrages sei zwischen ihm und dem damaligen Geschäftsführer der Beklagten „besprochen worden“, dass er, der Kläger medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche durchführen dürfe, ergibt sich nichts Anderes.
141

Der Vortrag ist einerseits verspätet und andererseits unschlüssig.
142

Im Gegenteil ergibt sich nämlich aus § 2 Ziffer 2 Satz 1 des Arbeitsvertrages, dass der Kläger als Arbeitnehmer -selbstverständlich- an Weisungen des Krankenhausträgers sowie des ärztlichen Direktors des Krankenhauses gebunden ist (§ 106 GewO). Ihm sollte gem. § 2 Ziffer 2 Satz 2 des Arbeitsvertrages zwar die (alleinige) ärztliche Verantwortung bei der Diagnostik und Therapie obliegen. Eine Einschränkung des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts für die Frage, welche ärztlichen Leistungen im Krankenhaus grundsätzlich angeboten werden, lässt sich dem Arbeitsvertrag aber gerade nicht entnehmen.
143

3.
144

Demgemäß war zu entscheiden, wie geschehen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Absatz 2 ArbGG i. V. m. § 91 ZPO. Als Streitwert war wegen der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Relevanz dieses Verfahrens ein Betrag i. H. v. 20.000 € festzusetzen.

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VonRA Moegelin

Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung

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Beim Missbrauch der Machtstellung eines Geschäftsführers, kann das Arbeitsverhältnis gegen Abfindungszahlung an den Arbeitnehmer gemäß § 9 KSchG aufgelöst werden.

Volltext der Pressemitteilung vom 18. Juli 2025 des Landesarbeitsgerichts Köln, Urteil vom 09.07.2025 – 4 SLa 97/25:

Die 4. Kammer des Landesarbeitsgerichts Köln hat am 09.07.2025 die Berufung der Beklagten gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts Bonn, mit der das Arbeitsverhältnis der klagenden Arbeitnehmerin gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 70.000 aufgelöst wurde, größtenteils zurückgewiesen und die Höhe der Abfindungssumme wegen einer geringfügig abweichenden Berechnungsweise auf 68.153,80 EUR festgesetzt.

Das Landesarbeitsgericht Köln bestätigte, dass der Arbeitnehmerin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen sexistischer, demütigender und willkürlicher Äußerungen des Geschäftsführers unzumutbar sei (§ 9 KSchG). Der Geschäftsführer der Beklagten habe der Klägerin zudem aus Unmut über die Entwicklung des privaten Verhältnisses zu ihr arbeitsrechtliche Sanktionen angedroht.

Die außergewöhnliche Höhe der Abfindungszahlung begründete das Landesarbeitsgericht Köln anhand der besonderen Umstände des Falles mit der offensichtlichen Sozialwidrigkeit der Kündigung und der erheblichen Herabwürdigung der Klägerin, die zu einer seit Mai 2024 andauernden posttraumatischen Belastungsstörung geführt habe. Zudem berücksichtigte das Gericht, dass der Geschäftsführer die Auflösungsgründe vorsätzlich durch das Missbrauchen seiner Machtstellung herbeigeführt habe.

Gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Köln ist ein Rechtmittel nicht gegeben. Die Entscheidung kann demnächst unter www.nrwe.de abgerufen werden.

Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 09.07.2025 – 4 SLa 97/25

Dr. Schramm

Die Pressedezernentin des Landesarbeitsgerichts Köln

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 9 KSchG – Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch Urteil des Gerichts, Abfindung des Arbeitnehmers

(1) Stellt das Gericht fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, ist jedoch dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten, so hat das Gericht auf Antrag des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den Arbeitgeber zur Zahlung einer angemessenen Abfindung zu verurteilen. Die gleiche Entscheidung hat das Gericht auf Antrag des Arbeitgebers zu treffen, wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber können den Antrag auf Auflösung des Arbeitsverhältnisses bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz stellen.

(2) Das Gericht hat für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses den Zeitpunkt festzusetzen, an dem es bei sozial gerechtfertigter Kündigung geendet hätte.

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