Monatsarchiv 26. Juni 2021

VonRA Moegelin

Mindestlohn für entsandte ausländische Betreuungskräfte

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Nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden. Dazu gehört auch Bereitschaftsdienst. Ein solcher kann darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten.

Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Bulgarien. Sie war seit April 2015 bei der Beklagten, einem Unternehmen mit Sitz in Bulgarien, als Sozialassistentin beschäftigt. In dem in bulgarischer Sprache abgefassten Arbeitsvertrag ist eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart, wobei Samstag und Sonntag arbeitsfrei sein sollten. Die Klägerin wurde nach Berlin entsandt und arbeitete gegen eine Nettovergütung von 950,00 Euro monatlich im Haushalt der über 90-jährigen zu betreuenden Person, bei der sie auch ein Zimmer bewohnte. Ihre Aufgaben umfassten neben Haushaltstätigkeiten (wie Einkaufen, Kochen, Putzen etc.) eine „Grundversorgung“ (wie Hilfe bei der Hygiene, beim Ankleiden etc.) und soziale Aufgaben (zB Gesellschaft leisten, Ansprache, gemeinsame Interessenverfolgung). Der Einsatz der Klägerin erfolgte auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags, in dem sich die Beklagte gegenüber der zu betreuenden Person verpflichtete, die aufgeführten Betreuungsleistungen durch ihre Mitarbeiter in deren Haushalt zu erbringen.

Mit ihrer im August 2018 erhobenen Klage hat die Klägerin unter Berufung auf das Mindestlohngesetz (MiLoG) weitere Vergütung verlangt. Sie hat geltend gemacht, bei der Betreuung nicht nur 30 Wochenstunden, sondern rund um die Uhr gearbeitet zu haben oder in Bereitschaft gewesen zu sein. Selbst nachts habe die Tür zu ihrem Zimmer offenbleiben müssen, damit sie auf Rufen der zu betreuenden Person dieser – etwa zum Gang auf die Toilette – Hilfe habe leisten können. Für den Zeitraum Mai bis August 2015 und Oktober bis Dezember 2015 hat die Klägerin zuletzt die Zahlung von 42.636,00 Euro brutto abzüglich erhaltener 6.680,00 Euro netto nebst Prozesszinsen begehrt. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, sie schulde den gesetzlichen Mindestlohn nur für die arbeitsvertraglich vereinbarten 30 Wochenstunden. In dieser Zeit hätten die der Klägerin obliegenden Aufgaben ohne Weiteres erledigt werden können. Bereitschaftsdienst sei nicht vereinbart gewesen. Sollte die Klägerin tatsächlich mehr gearbeitet haben, sei dies nicht auf Veranlassung der Beklagten erfolgt.

Das Landesarbeitsgericht hat der Klage überwiegend entsprochen und ist im Wege einer Schätzung von einer Arbeitszeit von 21 Stunden kalendertäglich ausgegangen. Hiergegen richten sich die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision der Klägerin mit Erfolg. Das Berufungsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass die Verpflichtung zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns nach § 20 iVm. § 1 MiLoG auch ausländische Arbeitgeber trifft, wenn sie Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden. Hierbei handelt es sich um Eingriffsnormen iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, die unabhängig davon gelten, ob ansonsten auf das Arbeitsverhältnis deutsches oder ausländisches Recht Anwendung findet. Die Revision der Beklagten rügt jedoch mit Erfolg, das Berufungsgericht habe ihren Vortrag zum Umfang der geleisteten Arbeit nicht ausreichend gewürdigt und deshalb unzutreffend angenommen, die tägliche Arbeitszeit der Klägerin habe unter Einschluss von Zeiten des Bereitschaftsdienstes 21 Stunden betragen. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zu Recht in den Blick genommen, dass aufgrund des zwischen der Beklagten und der zu betreuenden Person geschlossenen Dienstleistungsvertrags eine 24-Stunden-Betreuung durch die Klägerin vorgesehen war. Es hat jedoch rechtsfehlerhaft bei der nach § 286 ZPO gebotenen Würdigung des gesamten Parteivortrags den Hinweis der Beklagten auf die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 30 Stunden/Woche nicht berücksichtigt, sondern hierin ein rechtsmissbräuchliches widersprüchliches Verhalten gesehen. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils. Auch die Anschlussrevision der Klägerin ist begründet. Für die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin habe geschätzt täglich drei Stunden Freizeit gehabt, fehlt es bislang an ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten, so dass auch aus diesem Grund das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben ist. Die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um insoweit den Sachverhalt weiter aufzuklären, den Vortrag der Parteien umfassend zu würdigen und festzustellen, in welchem Umfang die Klägerin Vollarbeit oder Bereitschaftsdienst leisten musste und wie viele Stunden Freizeit sie hatte. Dass die Klägerin mehr als die im Arbeitsvertrag angegebenen 30 Stunden/Woche zu arbeiten hatte, dürfte – nach Aktenlage – nicht fernliegend sein.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Juni 2021 – BAG 5 AZR 505/20
Pressemitteilung Nr. 16/21
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17. August 2020 – 21 Sa 1900/19

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VonRA Moegelin

Abmahnung eines Redakteurs – BAG 9 AZR 413/19

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Eine tarifliche Regelung, nach der ein angestellter Zeitschriftenredakteur dem Verlag die anderweitige Verwertung einer während seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeit bekannt gewordenen Nachricht anzuzeigen hat, soll dem Verlag regelmäßig die Prüfung ermöglichen, ob seine berechtigten Interessen durch die beabsichtigte Veröffentlichung beeinträchtigt werden. Verstößt der Arbeitnehmer gegen die Anzeigepflicht, kann dies eine Abmahnung rechtfertigen.

Der Kläger ist bei der Beklagten als Redakteur der Zeitschrift „W.“ beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für Redakteurinnen/Redakteure an Zeitschriften idF vom 4. November 2011 (MTV) Anwendung. Nach § 13 Ziffer 3 MTV bedarf eine Redakteurin bzw. ein Redakteur zur anderweitigen Verarbeitung, Verwertung und Weitergabe der ihr/ihm bei ihrer/seiner Tätigkeit für den Verlag bekannt gewordenen Nachricht der schriftlichen Einwilligung des Verlags. Der Arbeitsvertrag der Parteien verlangt anstelle der schriftlichen Einwilligung des Verlags die der Chefredaktion.

Im September 2017 nahm der Kläger im Rahmen einer Dienstreise in die USA an der Standorteröffnung eines deutschen Unternehmens teil, um darüber für die Beklagte zu berichten. Der Artikel des Klägers enthielt ua. die Schilderung eines Vorfalls, der sich während der Eröffnungsveranstaltung am abendlichen Buffet zwischen dem Kläger und der ausrichtenden Unternehmerin im Beisein von Redakteuren anderer Zeitschriften zugetragen hatte. Auf die Erklärung des Klägers, er esse nichts, da er „zu viel Speck über‘m Gürtel“ habe, kniff die Unternehmerin dem Kläger in die Hüfte. Diese Passage wurde von der Redaktion der Zeitschrift „W.“ gestrichen. Im Dezember 2017 fragte der Kläger seinen Chefredakteur, ob der Vorfall nicht doch noch im Rahmen der „#MeToo-Debatte“ veröffentlicht werden könne. Dies lehnte der Chefredakteur ab. Der Ankündigung des Klägers, den Beitrag anderweitig zu publizieren, begegnete der Chefredakteur mit einem Hinweis auf das Konkurrenzverbot im Arbeitsvertrag. Im März 2018 erschien – ohne vorherige Unterrichtung der Beklagten – in der T.-Zeitung ein Beitrag des Klägers mit dem Titel „Ran an den Speck“. Die Beklagte erteilte dem Kläger daraufhin eine Abmahnung, weil er es unterlassen hatte, die schriftliche Einwilligung der Chefredaktion einzuholen.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte. Er hat im Wesentlichen die Auffassung vertreten, der Erlaubnisvorbehalt in § 13 Ziffer 3 MTV verletze ihn als Redakteur in seiner durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit sowie in den weiteren Grundrechten auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG, außerdem in dem Recht aus Art. 10 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Es sei nicht erforderlich gewesen, die Einwilligung der Chefredaktion einzuholen, weil die Beklagte eine Veröffentlichung endgültig abgelehnt habe, um die Unternehmerin zu schützen.

Die Klage wurde in den Vorinstanzen abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Die Beklagte war berechtigt, den Kläger wegen Verletzung seiner Anzeigepflicht aus § 13 Ziffer 3 MTV abzumahnen. Die Verpflichtung eines Redakteurs, den Verlag vor der anderweitigen Veröffentlichung einer ihm während seiner arbeitsvertraglichen Tätigkeit bekannt gewordenen Nachricht um Erlaubnis zu ersuchen, verstößt weder gegen Verfassungs- noch gegen Konventionsrecht. Im Rahmen der Abwägung der kollidierenden Grundrechtspositionen von Redakteur und Verlag ist zu berücksichtigen, dass Letzterer erst durch die Anzeige der beabsichtigten Nebentätigkeit in die Lage versetzt wird zu überprüfen, ob seine berechtigten Interessen durch die beabsichtigte Veröffentlichung beeinträchtigt werden. Dahinter muss das Interesse des Arbeitnehmers, die Nachricht ohne vorherige Einbindung des Verlags zu veröffentlichen, regelmäßig zurücktreten. Das Landesarbeitsgericht hat vorliegend ohne Rechtsfehler angenommen, der Kläger sei unter den gegebenen Umständen verpflichtet gewesen, vor der Veröffentlichung des Artikels in der T.-Zeitung die Einwilligung der Chefredaktion einzuholen. Die Beklagte hatte ein berechtigtes Interesse an der Unterrichtung, um die Verwertung der Nachricht durch einen Wettbewerber gegebenenfalls verhindern zu können, während die Belange des Klägers dadurch nur unwesentlich beeinträchtigt worden wären.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15. Juni 2021 – 9 AZR 413/19
siehe Pressemitteilung Nr. 13/21
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 26. Juni 2019 – 4 Sa 970/18

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VonRA Moegelin

Kündigung eines Kurierfahrers wegen Offboardings

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Das Einsatzverbot eines Kurierfahrers einer Spedition („Offboarding“) durch deren einzigen Kunden („Offboarding“) stellt für sich genommen keinen wichtigen Grund zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar. Es führt auch nicht zur Leistungsunfähigkeit des Kurierfahrers im Sinne von § 297 BGB , wenn es auf einem vertraglichen Mitspracherecht des Kunden bei der Auswahl der Kurierfahrer beruht. (Leitsätze)

Volltext des Urteils des Landsarbeitsgerichts Nürnberg vom 03.03.2021 – 2 Sa 323/20:

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 23.06.2020, Az. 14 Ca 146/20, abgeändert.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 16.12.2019, zugegangen am 20.12.2019, nicht aufgelöst worden ist.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 333,33 € brutto sowie 132,- € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 464,33 € seit 25.02.2020 zu zahlen.
4. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
5. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
6. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Arbeitgeberkündigung, um Annahmeverzugslohn sowie Verpflegungszuschüsse.
2
Der am …1976 geborene, verheiratete Kläger war seit 12.11.2019 bei der Beklagten als Kurierfahrer mit einer durchschnittlichen monatlichen Bruttovergütung von 2.000,- € beschäftigt. Während der vereinbarten sechsmonatigen Probezeit konnte das Arbeitsverhältnis beiderseits mit einer Frist von zwei Wochen gekündigt werden. Ausweislich des zwischen den Parteien geschlossenen Arbeitsvertrages vom 24.10.2019 (Blatt 5 ff. der Akten) oblag es dem Kläger, vorsortierte Pakete nach einer vorgeplanten Route zuzustellen. Ein Betriebsrat besteht bei der Beklagten nicht.
3
Die Beklagte übernimmt ausschließlich Aufträge für das Unternehmen A. Teilte A. der Beklagten mit, dass gegenüber einem Fahrer die „Action“ „Offboarding“ getroffen ist, so darf der Fahrer jedenfalls für eine gewisse Zeit nicht als Fahrer für A. tätig sein, nach Angaben der Beklagten mindestens mehrere Monate.
4
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 16.12.2019, dem Kläger am 20.12.2019 zugegangen, außerordentlich und fristlos, hilfsweise ordentlich innerhalb der Probezeit, da die A. Deutschland S4 Transport GmbH (künftig A.) mit E-Mail vom 16.12.2019 (Blatt 54 f. der Akten) für den Kläger ein „Offboarding“ wegen zahlreicher Beschwerden von Kunden („Concessions“) verfügt habe. Der Kläger arbeitete noch bis 18.12.2019.
5
Die Beklagte zahlte die Vergütung bis einschließlich 31.12.2020. Für seine Arbeitstage im November erhielt der Kläger steuerfreien Verpflegungszuschuss in Höhe von 156,- €, für Dezember erhielt er keinen Verpflegungszuschuss (s. Abrechnungen, Blatt 30, 31 der Akten).
6
Gegen die Kündigung der Beklagten vom 16.12.2019 wandte sich der Kläger mit Kündigungsschutzklage vom 09.01.2020, beim Arbeitsgericht Nürnberg am 10.01.2020 eingegangen und der Beklagten am 15.01.2020 zugestellt. Mit Klageerweiterung vom 19.02.2020, beim Arbeitsgericht Nürnberg am 21.02.2020 eingegangen und der Beklagten am 26.02.2020 zugegangen, machte der Kläger Ansprüche auf Annahmeverzugsvergütung für die Zeit vom 01.01. bis 03.01.2020 in Höhe von 200,- € brutto, Urlaubsabgeltung für zwei Tage in Höhe von 133,33 € brutto sowie Verpflegungszuschuss für 13 Arbeitstage im Dezember in Höhe von jeweils 12,- Euro netto, insgesamt also 156,- € netto, geltend. Mit Schriftsatz vom 17.04.2020 erklärte die Beklagte hilfsweise die Aufrechnung gegen die Zahlungsansprüche des Klägers mit einem Entgeltrückforderungsanspruch für die Zeit vom 21.12.2019 bis 31.12.2019.
7
Wegen des erstinstanzlichen Vortrags der Parteien sowie der genauen Antragstellung wird auf den Tatbestand im Urteil des Arbeitsgerichts Bezug genommen.
8
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 23.06.2020 abgewiesen. Ein wichtiger Grund für die außerordentliche Kündigung liege vor. Dabei könne dahinstehen, ob tatsächlich Empfangsquittungen durch den Kläger unterschrieben und die entsprechenden Pakete nicht beim jeweiligen Kunden abgegeben worden seien. Es genüge bereits das so genannte Offboarding des Klägers durch A. mit E-Mail vom 16.12.2019 als wichtiger Grund an sich, um die außerordentliche Kündigung der Beklagten zu rechtfertigen. Infolge der Sperrung durch A. könne der Kläger seine arbeitsvertragliche Verpflichtung als Kurierfahrer für die Beklagte nicht mehr erbringen, die Beklagte könne den Kläger nicht mehr beschäftigen. Da die Be- und Entladetätigkeiten in einem eng getakteten System von den jeweiligen Fahrern selbst durchgeführt würden, stünde auch kein Arbeitsplatz für den Kläger für reine Be- und Entladetätigkeiten zur Verfügung. Im Hinblick auf die sehr kurze Beschäftigungszeit des Klägers und den sonstigen Sozialdaten sei der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur für den Zeitraum bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zumutbar. Zahlungsansprüche stünden dem Kläger nicht zu. Da das Arbeitsverhältnis zum 20.12.2019 beendet worden sei, seien Annahmeverzugsansprüche nicht entstanden. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung sei durch Aufrechnung erloschen, da die Beklagte eine Überzahlung bis zum 31.12.2020 vorgenommen habe. Ein Anspruch auf Zahlung eines Verpflegungszuschusses sei nicht gegeben. Eine entsprechende Vereinbarung habe der Kläger trotz Bestreitens nicht näher vorgetragen.
9
Dem Kläger wurde das Endurteil des Arbeitsgerichts am 28.07.2020 zugestellt. Er legte hiergegen mit Schriftsatz vom 28.08.2020, beim Landesarbeitsgericht Nürnberg am selben Tage eingegangen, Berufung ein und begründete diese mit Schriftsatz vom 28.10.2020, beim Landesarbeitsgericht Nürnberg am selben Tage eingegangen, innerhalb der bis zu diesem Tage verlängerten Berufungsbegründungsfrist.
10
Unter Bezugnahme auf sein erstinstanzliches Vorbringen hält der Kläger an der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung fest. Das angebliche Sperren des Klägers als Fahrer („Offboarding“) seitens A. sei nichts, was der Kläger in irgendeiner Form habe beeinflussen können. Ein solcher personenbedingter Kündigungsgrund rechtfertige keine außerordentliche Kündigung. Aus der E-Mail vom 16.12.2019 ergebe sich lediglich, dass der Kläger von A. ins „Offboarding“ gesetzt worden sei, und „TO bis Weihnachten, danach fahren auf Manifi…“ vermerkt worden sei. Von einer endgültigen Sperrung könne damit nicht die Rede sein. Mittlerweile sei der Kläger bei einer anderen Firma angestellt und sei wieder als Fahrer für A. tätig. Soweit ein verhaltensbedingter Grund herangezogen würde, sei keine Abmahnung ausgesprochen worden. Unterschriften habe er, der Kläger, nicht gefälscht. Wegen des Zugangs der Kündigung erst am 20.12.2019 habe das Arbeitsverhältnis erst am 03.01.2020 aufgrund der Probezeitkündigung geendet. Dem Kläger stehe daher noch Entgelt für drei Tage im Jahre 2020 zu. Hinzu komme die Urlaubsabgeltung für zwei Tage. Eine Überzahlung habe wegen der Unwirksamkeit der Kündigung nicht vorgelegen, so dass die Aufrechnung ins Leere gehe. Die Zahlung eines Verpflegungszuschusses sei vereinbart gewesen. Auch alle anderen Fahrer hätten diesen erhalten.
11
Der Kläger stellte daher zuletzt im Berufungsverfahren folgende Anträge:
1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 23.06.2020 wird abgeändert.
2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 16.12.2019 nicht aufgelöst worden ist.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 333,33 € brutto sowie 156 € netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 489,33 € seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
12
Die Beklagte beantragt,
Die Berufung wird zurückgewiesen.
13
Die Beklagte verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts. Die außerordentliche Kündigung vom 16.12.2019 sei wirksam. Aus der E-Mail vom 16.12.2019 ergebe sich eindeutig, dass die Bemerkung für den Kläger „Offboarding“ gewesen sei. Die Bemerkung „TO bis nach Weihnachten, danach fahren auf Manifi…“ habe sich auf die nachfolgenden Fahrer bezogen, denen ein so genanntes Timeout (TO) gesetzt worden sei. Die Beklagte habe es gerade nicht selbst in der Hand, Kündigungsgründe zu schaffen. Sie arbeite ausschließlich für A. Dort liefen die Beschwerden der Kunden auf und würden dort registriert. Von A. würden dann entsprechende Maßnahmen veranlasst. A. arbeite grundsätzlich nach einem so genannten Phasenmodell, wobei in Phase 1 ein nochmaliges Training des jeweiligen Fahrers erfolge und sich die Phasen dann schlussendlich bis zur Phase 4 steigern würden, dem Offboarding. Werde aber ein Fahrer durch A. gesperrt, könne dieser nicht mehr für A. fahren. Anderweitige Tätigkeiten gebe es bei der Beklagten nicht. Da das Arbeitsverhältnis mit Zugang der Kündigung vom 16.12.2019 am 20.12.2019 beendet worden sei, sei die Beklagte nicht in Annahmeverzug geraten. Ein Anspruch auf Zahlung des Lohnes bis zum 03.01.2020 stehe dem Kläger nicht zu. Ein Verpflegungszuschuss sei nicht vereinbart worden. Es habe sich im November 2019 um eine freiwillige Leistung der Beklagten gehandelt. Es werde bestritten, dass im November und Dezember 2019 grundsätzlich Verpflegungszuschuss gezahlt worden sei. Der Anspruch auf Zahlung von Urlaubsabgeltung sei durch die Aufrechnung mit dem überzahlten Gehalt erloschen.
14
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf den Schriftsatz des Klägers vom 28.10.2020 (Blatt 145 -151 der Akten) und auf den Schriftsatz der Beklagten vom 25.11.2020 (Blatt 154 -157 der Akten) sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 20.01.2021 (Blatt 178 -180 der Akten) verwiesen.

Entscheidungsgründe

A.
15
Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft, § 64 Abs. 1, 2 b ArbGG, und auch in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, 520 ZPO.
B.
16
Die Berufung ist zum größten Teil auch begründet. Die Kündigung hat das Arbeitsverhältnis nicht mit deren Zugang am 20.12.2019 beendet, sondern erst zum 03.01.2020. Ein wichtiger Grund für die Kündigung liegt nicht vor. Die Beklagte ist in Annahmeverzug geraten und schuldet dem Kläger das noch offene Entgelt bis 03.01.2020. Eine Überzahlung des Entgelts liegt daher nicht vor. Der Urlaubsabgeltungsanspruch für zwei Tage steht dem Kläger zu. Er ist weder verfallen, noch durch Aufrechnung erloschen. Der Verpflegungszuschuss steht dem Kläger nicht für 13 Tage, sondern nur für 11 Tage zu. Insoweit war die Berufung zurückzuweisen.
I.
17
Die außerordentliche Kündigung vom 16.12.2019 hat das Arbeitsverhältnis nicht mit deren Zugang am 20.12.2019 beendet. Diese Kündigung ist unwirksam. Ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 BGB liegt nicht vor.
18
1. Der Kläger kann jeden Unwirksamkeitsgrund geltend machen, da er innerhalb von drei Wochen Kündigungsschutzklage gegen die außerordentliche Kündigung vom 16.12.2020 erhoben hat (§§ 4 Satz 1, 7, 13 Abs. 1 Satz 2 KSchG).
19
2. Die Kündigung ist unwirksam, da ein wichtiger Grund, der die außerordentliche Kündigung rechtfertigen könnte, nicht vorliegt (§ 626 BGB).
20
a. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (st. Rspr. z.B. BAG 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn 15, juris). Die Darlegungs- und Beweislast für alle Tatsachen, die die außerordentliche Kündigung begründen, trägt im Kündigungsschutzprozess der Arbeitgeber.
21
b. Ein „an sich“ wichtiger Grund für die Kündigung liegt bereits nicht vor.
22
aa. Das Offboarding durch A. stellt für sich genommen keinen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung dar.
23
(1) Die Beklagte beruft sich insbesondere im Berufungsverfahren nicht darauf, dass die Beschwerden von Kunden gegenüber ihrem Auftraggeber A. berechtigt gewesen wären, er also Vertragsverstöße begangen habe. Vielmehr sei Kündigungsgrund der Umstand, dass massive Beschwerden von A.-Kunden über den Kläger eingegangen seien, insgesamt 21 Beschwerden im Zeitraum vom 01.12.2019 – 18.12.2019. Aufgrund dieser Beschwerden sei der Kläger dann von A. mit E-Mail vom 16.12.2019 als Fahrer gesperrt worden („Offboarding“). Andere Einsatzmöglichkeiten für den Kläger habe es nicht gegeben, da A. der einzige Kunde der Beklagten sei. Damit macht die Beklagte geltend, dass dem Kläger die Fähigkeit zur Leistungserbringung auf Grund der Sperrung durch A. fehle. Damit macht sie einen personenbedingten Kündigungsgrund geltend.
24
(2) Ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 BGB kann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer auf Grund von Umständen, die in seiner Sphäre liegen, zu der nach dem Arbeitsvertrag vorausgesetzten Leistung auf unabsehbare Dauer nicht mehr in der Lage ist. Darin liegt regelmäßig eine schwere und dauerhafte Störung des vertraglichen Austauschverhältnisses, der der Arbeitgeber, wenn keine andere Beschäftigungsmöglichkeit besteht, mit einer außerordentlichen Kündigung begegnen kann. Dies gilt allerdings nur ausnahmsweise, insbesondere wenn eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen ist (APS-Vossen, 6. Aufl., § 626 BGB Rn 83 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung), da eine personenbedingte Kündigung verschuldensunabhängig ist.
25
(3) Im vorliegenden Fall steht schon nicht fest, ob das sog. „Offboarding“ ein Beschäftigungsverbot auf unabsehbare Zeit bei A. bedeutet. Die Beklagte war sich in der mündlichen Verhandlung auf Rückfrage des Gerichts nicht sicher, wie lange dieses „Offboarding“ zu einem Beschäftigungsverbot bei A. führt, nachdem der Kläger mitgeteilt hatte, mittlerweile wieder für einen anderen Arbeitgeber im Auftrag von A. als Kurierfahrer tätig zu sein. Damit steht gerade nicht fest, ob der Kläger zum Zeitpunkt der Kündigung auf unabsehbare Dauer an der Arbeitsleistung verhindert war.
26
(4) Hinzukommt, dass der Arbeitgeber grundsätzlich das Wirtschaftsrisiko trägt. Zu diesem gehört auch die Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist. Zwar handelt es sich beim Offboarding des Klägers durch A. nicht um einen betriebsbedingten Kündigungsgrund, sondern um einen personenbedingten. Im vorliegenden Fall ist der Kläger jedoch allgemein als Kurierfahrer eingestellt. Dass dies bei A. erfolgen muss, ist arbeitsvertraglich nicht vereinbart. Im Gegenteil: § 3 des Arbeitsvertrags enthält sogar eine Versetzungsklausel dahin, auch andere Arbeiten an einem anderen Ort auszuführen. Das Risiko, dass die Beklagte ausschließlich für A. tätig ist und daher andere Arbeitsplätze für den Kläger aufgrund des „Offboardings“ nicht zur Verfügung stehen, liegt daher für die Dauer der Kündigungsfrist jedenfalls nicht vollständig beim Kläger. Auch deshalb ist der Beklagten das Festhalten am Arbeitsvertrag bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zuzumuten.
27
(5) Selbst wenn zum Zeitpunkt der Kündigung von einem dauerhaften Leistungshindernis auszugehen wäre, wäre der Ausspruch einer ordentlichen Kündigung ausreichend gewesen, um hierauf im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu reagieren. Die Beklagte beruft sich auf einen personenbedingten Kündigungsgrund. Gerade in Fällen des dauernden Leistungshindernisses lässt das BAG eine außerordentliche Kündigung grundsätzlich nur dann zu, wenn die ordentliche Kündigung ausgeschlossen ist und eine der ordentlichen Kündigung entsprechende soziale Auslauffrist eingehalten wird. Die ordentliche Kündigung ist hier aber nicht ausgeschlossen. Der Beklagten ist daher die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der zweiwöchigen Kündigungsfrist zuzumuten.
28
bb. Auf einen verhaltensbedingten Grund für die außerordentliche Kündigung kann sich die Beklagte nicht stützen. Erstinstanzlich hat die Beklagte dem Kläger noch vorgeworfen, Unterschriften der Nachbarn von Zustellungsempfängern gefälscht zu haben, um eine Zustellung vorzutäuschen. Sie hat dazu u.a. 7 Ausdrucke sog. Notes (Blatt 58 ff = Anlage B6) vorgelegt. Dies würde, unterstellt die Vorwürfe träfen zu, an sich einen wichtigen verhaltensbedingten Grund zur Kündigung darstellen. Der Kläger hat allerdings bestritten, Unterschriften gefälscht zu haben. Es sei bekannt, dass A. aus Kundenfreundlichkeit nicht prüfe, ob Pakete angekommen seien. Bei Reklamation werde noch mal ausgeliefert. Einen Beweis dafür, dass der Kläger tatsächlich Unterschriften gefälscht habe, hat die Beklagte nicht angetreten. Im Berufungsverfahren hat sie ihre diesbezüglichen Behauptungen nicht wiederholt, sondern nur die Praktizierung des sog. Phasenmodells durch A. und die Information der Beklagten über die „Concessions“ unter Beweis gestellt. Auf den erstinstanzlichen Vortrag ist auch nicht Bezug genommen.
29
cc. Auf den Verdacht einer schweren Pflichtverletzung hat die Beklagte ihre Kündigung ohnehin nicht gestützt. Dies wäre aber Voraussetzung, da es sich insoweit um einen von der Tatbegehung abzugrenzenden eigenständigen Kündigungsgrund handelt, der wiederum einen Eignungsmangel als personenbedingten Kündigungsgrund darstellen würde (BAG 31.01.2019 – 2 AZR 426/18 Rn 20).
30
dd. Das Arbeitsverhältnis hat daher auf Grund der gleichzeitig ausgesprochenen und vom Kläger nicht angegriffenen ordentlichen Kündigung zum 03.01.2020 geendet.
II.
31
Der Kläger hat Anspruch auf Zahlung von Entgelt für die Zeit vom 01.01. – 03.01.2020 in Höhe von 200,- € brutto. Dies folgt für den 02. und 03.01.2020 aus §§ 611a Abs. 2, 615 BGB, für den 01.01.2020 aus § 2 EFZG. Die Beklagte hat sich während der Kündigungsfrist in Annahmeverzug befunden.
32
1. Ob sich der Arbeitgeber im Verzug mit der Annahme der Arbeitsleistung befunden hat mit der Folge Arbeitsentgelt auch ohne Arbeitsleistung fortzahlen zu müssen, richtet sich nach §§ 293 ff BGB. Danach kommt der Arbeitgeber nach Ausspruch einer unwirksamen Kündigung in Annahmeverzug, ohne dass es eines tatsächlichen oder wörtlichen Angebots der Arbeitsleistung bedarf (BAG 11.01.2006 – 5 AZR 98/05 Rn 11 mwN).
33
2. Der Kläger war auch leistungsfähig im Sinne von § 297 BGB.
34
a. Unbeschadet der sonstigen Voraussetzungen kommt der Arbeitgeber nach § 297 BGB nicht in Annahmeverzug, wenn der Arbeitnehmer außer Stande ist, die Arbeitsleistung zu bewirken. Die Leistungsfähigkeit ist – neben dem Leistungswillen – eine vom Leistungsangebot und dessen Entbehrlichkeit unabhängige Voraussetzung, die während des gesamten Annahmeverzugszeitraums vorliegen muss. Unerheblich ist dabei die Ursache für die Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Das Unvermögen kann auf tatsächlichen Umständen (wie z.B. Arbeitsunfähigkeit) beruhen oder ihre Ursache im Rechtlichen haben, etwa wenn ein gesetzliches Beschäftigungsverbot besteht (z.B. fehlende Arbeitserlaubnis) oder eine erforderliche Erlaubnis für das Ausüben der geschuldeten Tätigkeit (Fahrerlaubnis, Fluglizenz, Einsatzgenehmigung bei den US-Streitkräften) fehlt (st. Rspr., vgl. nur BAG 28.09.2016 – 5 AZR 224/16 Rn 23 mwN; ErfK-Preis 21. Aufl., § 615 BGB, Rn 43 mwN). Die geschuldete Leistung ist dabei diejenige, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wirksam auf Grund seines Direktionsrechts zuletzt zugewiesen hat (BAG 19.10.2010 – 5 AZR 162/09 – Rn 16). Dem gleichgestellt hat das BAG auch den Fall, dass der Kunde, bei dem der Arbeitnehmer eingesetzt wird, dem Arbeitnehmer ein Hausverbot erteilt (BAG 28.09.2016 – 5 AZR 224/16 Rn 25).
35
Kann dagegen der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nur deshalb nicht einsetzen, weil er dem Kunden vertraglich ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Arbeitnehmer eingeräumt hat, und widersetzt sich der Kunde dem Einsatz eines bestimmten Arbeitnehmers, begründet das grundsätzlich kein Unvermögen dieses Arbeitnehmers, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Bei einem solchen „Einsatzverbot“ scheidet Annahmeverzug des Arbeitgebers erst aus, wenn ihm nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten des Arbeitslebens die Annahme der Arbeitsleistung unzumutbar ist (BAG 21.10.2015 – 5 AZR 843/14 – Rn 33 f).
36
Die Darlegungs- und Beweislast für die Leistungsunfähigkeit trägt der Arbeitgeber (BAG 22.08.2018 – 5 AZR 592/17 Rn 25).
37
b. A. hat mit dem „Offboarding“ des Klägers offensichtlich nicht vom eigenen Hausrecht, sondern von einem vertraglichen Mitspracherecht bei der Auswahl der Mitarbeiter Gebrauch gemacht.
38
Hierfür spricht zunächst die E-Mail vom 16.09.2019 von A. an die Beklagte, in der es heißt: „Folgende Actions werden für die Fahrer getroffen“. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass A. das Offboarding in Ausübung des Hausrechts selbst gegenüber den Fahrern verfügt hat. Sonst müsste es heißen: „Actions sind getroffen worden“.
39
Weiterhin hat der Kläger ausweislich des von der Beklagten vorgelegten Stundenzettels vom Dezember 2019 (Blatt 65 der Akten) noch bis einschließlich 18.12.2019 als Kurierfahrer gearbeitet, also noch zwei Tage über das Offboarding hinaus. Hieraus folgt unzweideutig, dass A. nicht unmittelbar gegenüber dem Kläger vom Hausrecht Gebrauch gemacht hat, sonst wäre dem Kläger die Arbeit als Kurierfahrer für A. bereits seit 16.12.2019 nicht möglich gewesen. Dies deckt sich mit der Behauptung des Klägers, dass erst am 18.12.2019 hinsichtlich der vermeintlich verloren gegangenen Pakete eine Besprechung mit dem Schichtleiter stattgefunden habe (Klageschrift Seite 3, Blatt 4 der Akte). Auch aus der E-Mail von A. vom 21.12.2019 (Blatt 56 der Akten) folgt nichts Anderes. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Beklagte die außerordentliche Kündigung ausgesprochen und diese war dem Kläger zugegangen. Die Mitteilung an die Beklagte, dass der Kläger „von der Anmeldung ausgeschlossen“ wurde, ist daher nur folgerichtig, heißt aber nicht, dass A. unabhängig von der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zwischen Kläger und Beklagter vom eigenen Hausrecht Gebrauch gemacht hat.
40
Darüber hinaus beruft sich die Beklagte auch nicht darauf, dass sie den Kläger wegen eines Hausverbots auch nicht mit anderen Arbeiten beschäftigen durfte. Gegen die vom Kläger vorgeschlagene Tätigkeit des ausschließlichen Be- und Entladens wendet die Beklagte nur ein, dass Be- und Entladetätigkeiten in einem eng getakteten System von den jeweiligen Fahrern selbst durchgeführt würden, nicht etwa, dass der Kläger das Lager nicht mehr betreten durfte.
41
Letztlich ist nicht einmal klar, wer Inhaber des Hausrechts des vom Kläger für das Be- und Entladen der Fahrzeuge anzufahrenden Lagers ist.
42
3. Der Beklagten war die Annahme der Arbeitsleistung des Klägers nicht unzumutbar. Unzumutbarkeit in diesem Sinne ist nur anzunehmen, wenn der Grund schwerer wiegt als der für die fristlose Kündigung, da ansonsten die sonstigen Unwirksamkeitsgründe des § 13 Abs. 3 KSchG weitgehend sanktionslos blieben. So reichte etwa ein schwerer Diebstahl durch den Betriebsleiter nicht aus, die Unzumutbarkeit zu begründen (BAG 29.10.1987, NZA 1988, 456; eingehend ErfK-Preis, 21. Aufl., § 615 BGB, Rn 63). Die Behauptung der Unterschriftenfälschung und das Verschwinden von Paketen ist in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht ausreichend, unabhängig davon, dass dies vom Kläger bestritten ist. Hinzukommt, dass die Beklagte die vertraglichen Grundlagen, auf die sich das „Einsatzverbot“ stützt, nicht offengelegt hat, so dass nicht überprüft werden kann, ob sie überhaupt in der von ihr reklamierten Weise gebunden war. Dagegen spricht, dass der Kläger noch zwei Tage nach dem „Offboarding“ vom 16.12.2019 weitergearbeitet hat. Die Beklagte hat auch nicht dargelegt, welche Folgen sie befürchten musste, hätte sie sich dem Verlangen von A. widersetzt.
43
4. Die Höhe des Entgelts ist zwischen den Parteien unstreitig. Danach ist ein Tag mit 66,66 € brutto zu bewerten.
44
5. Der Entgeltanspruch ist nicht verfallen. Er wurde innerhalb der dreimonatigen Verfallfrist des § 12 Arbeitsvertrag mit Klageerweiterung vom 19.02.2020 geltend gemacht.
45
6. Der Entgeltanspruch ist nicht durch Aufrechnung erloschen.
46
a. Die Beklagte hat die Aufrechnung mit Schriftsatz vom 17.04.2020 (Blatt 45 der Akten) erklärt (§ 398 BGB).
47
b. Die Aufrechnung mit dem (vermeintlich) überzahlten Entgelt ist bereits unzulässig.
48
Will der Arbeitgeber gegen Entgeltforderungen aufrechnen, kann er grundsätzlich nur gegen den Nettolohnanspruch aufrechnen, er bleibt zur Abführung der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge verpflichtet. Im Fall der Entgeltüberzahlung ebenso wie bei Rückforderungen von Einmalzahlungen kann der Arbeitgeber nur die Nettozuvielzahlung zurückfordern und diese gegen den Nettolohnanspruch des Arbeitnehmers aufrechnen. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass eine Klage auf Rückzahlung der Bruttovergütung einschließlich der Arbeitnehmer-Anteile zur Sozialversicherung unzulässig ist; der Arbeitgeber kann vielmehr nur den Nettobetrag einklagen und muss hinsichtlich der zu beziffernden Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung die Abtretung des Erstattungsanspruchs gegen den Sozialversicherungsträger beantragen (BAG 21.01.2015 – 10 AZR 84/14; Küttner/Griese, Personalbuch 2020, Aufrechnung Rn 5). Soweit in der Literatur teilweise vertreten wird, eine Aufrechnung brutto gegen brutto sei ausnahmsweise zulässig, weil dann die sich gegenüberstehenden Forderungen im wirtschaftlichen Ergebnis gleich seien, kann dem nicht gefolgt werden. Zum einen kann von einer wirtschaftlichen Gleichwertigkeit nur ausgegangen werden, wenn die Beitragsbemessungsgrenzen nicht tangiert und diese Sozialversicherungsbeiträge auch im Ãœbrigen unverändert geblieben sind. Die Klärung derartiger Vorfragen obliegt aber nicht den Arbeitsgerichten, sondern ist den Sozialgerichten vorbehalten. Zum anderen ist bei einer Aufrechnung brutto gegen brutto nicht sichergestellt, dass dem Arbeitnehmer tatsächlich der pfändungsfreie Beitrag verbleibt, weil sich dieser nur aus dem Nettobetrag bestimmen lässt (LAG Schleswig-Holstein 24.09.2019 – 1 Sa 108/19 – Rn 76, juris; LAG Berlin-Brandenburg 20.11.2018 – 21 Sa 866/13 – Rn 128 ff, juris). Rechnet ein Arbeitgeber gegen Bruttoeinkommen auf, obliegt es ihm jedenfalls vorzutragen, dass die Sozialversicherungsbeiträge der sich gegenüberstehenden Forderungen unverändert geblieben sind und Beitragsbemessungsgrenzen nicht berührt wurden. Ferner muss er zur Einhaltung der Pfändungsschutzvorschriften vortragen (Schaub/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, 18. Aufl., § 73, Rn 9).
49
c. Die Aufrechnung wäre aber auch unbegründet.
50
aa. Zum einen ist ein Entgeltrückzahlungsanspruch für die Zeit zwischen Zugang der Kündigung am 20.12.2019 und dem 31.12.2019 nicht entstanden (s.o.).
51
bb. Zum anderen wäre ein solcher Anspruch auf Grund der arbeitsvertraglichen Verfallklausel erloschen. Nach § 12 des Arbeitsvertrags (Blatt 8 der Akten) verfallen alle Ansprüche, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach ihrer Fälligkeit gegenüber dem Vertragspartner schriftlich geltend gemacht werden. Der Rückzahlungsanspruch wäre am 01.01.2020 entstanden und am 02.01.2020 fällig gewesen. Die dreimonatige Verfallfrist hätte daher am 02.04.2020 geendet. Geltend gemacht hatte die Beklagte den Rückzahlungsanspruch erst mit Schriftsatz vom 17.04.2020. Hierauf wurde die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom Gericht auch hingewiesen.
III.
52
Der Kläger hat Anspruch auf Urlaubsabgeltung für zwei Tage in Höhe von 133,33 € brutto gem. § 7 Abs. 4 BUrlG.
53
1. Das Arbeitsverhältnis bestand vom 12.11.2019 – 03.01.2020. Der jährliche Urlaubsanspruch betrug 20 Arbeitstage ausgehend von einer Fünf-Tage-Woche. Hieraus ergibt sich für 2019 ein Urlaubsanspruch von rechnerisch 1,66 Tagen nach § 5 Abs. 1 lit. a BUrlG, aufgerundet nach § 5 Abs. 2 BUrlG also zwei Tage. Der Urlaub wurde nicht in Natur genommen. Der Urlaubsanspruch des Klägers ist am Jahresende 2019 auch nicht verfallen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte den Kläger zuvor über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt hat und der Kläger den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (EuGH 06.11.2018, NZA 2018, 1474; BAG 19.02.2019, NZA 2019, 977; BAG 22.10.2019, NZA 2020, 307; ErfK-Gallner, 21. Aufl., § 1 BUrlG, Rn 12a mwN). Mit Ende des Arbeitsverhältnisses wandelte sich der Urlaubsanspruch in einen Geldanspruch auf Abgeltung des Urlaubs um (§ 7 Abs. 4 BUrlG). Die Höhe des Abgeltungsanspruchs für zwei Tage von 133,33 € brutto ist zwischen den Parteien nicht streitig.
54
2. Der Urlaubsabgeltungsanspruch ist nicht verfallen und nicht gem. §§ 387, 389 BGB durch Aufrechnung erloschen. Die Verfallfrist ist eingehalten. Die Aufrechnung ist unzulässig und wäre auch unbegründet. Auf die Ausführungen zum Entgeltanspruch für 01.01.2020 – 03.01.2020 wird Bezug genommen (s.o. unter B. II. 5. und 6.).
IV.
55
Dem Kläger steht auch der Verpflegungszuschuss für zuletzt noch geltend gemachte 11 Tage im Dezember 2019 in Höhe von täglich 12,- € netto zu (= 132,- € netto). Dass der Kläger im Dezember an 11 Tagen mehr als 8 Stunden gearbeitet hat, nicht aber an 13 Tagen, ist zwischen den Parteien nicht mehr streitig. In Höhe von 24,- € war die Berufung daher zurückzuweisen.
56
1. Zwar konnte der Kläger keinen Beweis für eine ausdrückliche Vereinbarung mit der Beklagten erbringen. Allerdings ergibt sich aus der von der Beklagten vorgelegten Stundenaufstellung vom Dezember 2019 (Anlage B 7, Blatt 65 der Akten), dass der Kläger im Dezember 2019 an 11 Tagen unstreitig mehr als 8 Stunden gearbeitet hat, wobei hier jeweils Spesen von 12,- € vermerkt sind. Unstreitig wurde ihm der entsprechende Verpflegungszuschuss auch im November bezahlt. Dass es sich hierbei um eine freiwillige Leistung handelte, ist zwar behauptet, ein Vorbehalt aber nicht ersichtlich. Das Berufungsgericht ist daher der Ansicht, dass dem Kläger mit der Auszahlung des Zuschusses von 12,- € pro Arbeitstag mit mehr als 8 Stunden im November konkludent eine entsprechende Zusage erteilt wurde, die dem Kläger nicht rückwirkend nach Erbringung der Arbeitsleistung wieder entzogen werden konnte.
57
2. Unabhängig davon hat der Kläger mit der Berufungsbegründung geltend gemacht, dass auch die anderen Fahrer einen solchen Zuschuss erhalten hätten. Nach Hinweis des Gerichts auf diesen Sachvortrag in der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte zwar bestritten, dass grundsätzlich ein Verpflegungszuschuss gezahlt worden sei. Damit hat sie aber nicht bestritten, dass andere Fahrer – wenn eben auch nicht alle – einen solchen Zuschuss auch im Dezember erhalten haben. Es hätte dann ihr oblegen darzulegen, nach welchen Kriterien welche Fahrer einen Verpflegungszuschuss erhalten haben, um dem Gericht die Möglichkeit zu geben zu prüfen, ob eine am Gleichbehandlungsgrundsatz zu messende sachwidrige Gruppenbildung erfolgt ist oder nicht. Denn der Kläger hat hierauf erwidert, nähere Angaben zu anderen Fahrern, die einen Verpflegungszuschuss erhalten haben, nicht machen zu können. Dies ist auch nachvollziehbar. Immerhin wurde dem Kläger nach gut einem Monat bereits die (fristlose) Kündigung ausgesprochen. Eine Schriftsatzfrist wurde von keiner Seite beantragt.
58
3. Zurecht ist die Zahlung auf einen Nettobetrag gerichtet. Die Verpflegungspauschale war nach § 3 Abs. 4a EStG im Jahre 2019 bis zu 12,- € täglich bei Abwesenheit von mehr als 8 Stunden steuerfrei. Die Pauschale wurde ab 01.01.2020 auf 14,- € erhöht. Nach § 3 EStG steuerfreie Einnahmen unterliegen nicht der Sozialversicherungspflicht, § 1 Abs. 1 Nr. 1 SvEV.
V.
59
Der Zinsanspruch des Klägers folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 1 BGB. Der Zinslauf beginnt antragsgemäß am 25.02.2020, dem Tag nach Rechtshängigkeit der Zustellung der Klageerweiterung §§ 187 Abs. 1 BGB, 261 Abs. 2 iVm 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die Zustellung des Schriftsatzes vom 19.02.2020 ist im Laufe des 24.02.2020 erfolgt.
VI.
60
Nach alledem war die Berufung weitestgehend erfolgreich und der Klage im zuletzt geltend gemachten Umfang bis auf einen Betrag von 24,- € stattzugeben.
C.
I.
61
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Zurücknahme des Berufungsantrags zu III (Abrechnung: Streitwert 24,45 €) und die Zurückweisung der Berufung für zwei Tage Verpflegungszuschuss ist verhältnismäßig geringfügig und fällt kostenmäßig allenfalls geringfügig ins Gewicht.
II.
62
Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, vgl. § 72 Abs. 2 ArbGG.

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VonRA Moegelin

Außerordentliche Kündigung wegen Arbeitszeitbetrug

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Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu erfassen oder zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen.

Volltext des Urteils des LAG München vom 14.01.2021 – 3 Sa 836/20:

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 14.07.2020 – 18 Ca 1451/19 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.
2
Der am 00.00.0000 geborene und mit einem Grad der Behinderung von 70 schwerbehinderte Kläger ist bei der Beklagten in deren Z seit dem 02.11.2008 beschäftigt, und zwar seit dem 15.02.2018 auf einem Schonarbeitsplatz bei Y zu einer monatlichen Bruttovergütung von 1.927,08 €.
3
Am Freitag, dem 27.09.2019, war der Kläger zu der um 08:00 Uhr beginnenden Schicht eingeteilt. Der Kläger fuhr mit seinem PKW zur Rastanlage und stempelte um 07:55 Uhr in die elektronische Zeiterfassung ein. Um ca. 08:00 Uhr verließ er ohne Absprache mit den Vorgesetzten und ohne Ausstempeln den Betrieb. Um 08:39 Uhr teilte die Schichtleiterin Frau G. dem Betriebsleiter Herrn S. per E-Mail mit: „Herr … (der Kläger) ist nicht zu seinem Dienst um 08:00 Uhr erschienen. Nach Angaben von Frau H… X hat er sie in die Arbeit gefahren. Angeblich hat er Probleme mit seinem Auto. Er hat sich weder bei mir abgemeldet noch ist mir bekannt, dass er das anderweitig tat.“
4
Gegen 08:40 Uhr kehrte der Kläger wieder in den Betrieb zurück und stempelte nicht ein. Unter nicht näher bekannten Umständen traf der Kläger auf die Schichtleiterin Frau G. Frau G. erklärte ihm, dass er eine halbe Stunde länger zu arbeiten habe und stellte ihm wegen der verspäteten Arbeitsaufnahme eine Abmahnung über die Betriebsleitung in Aussicht. Der Kläger unterließ es ihr mitzuteilen, dass er bereits um 07:55 Uhr eingestempelt hatte. Tatsächlich arbeitete der Kläger ausweislich der Stundenliste September 2019 (Anlage K3 = Bl. 90 d. A.) am 27.09.2019 statt bis 16:30 Uhr bis 17:00 Uhr (zu diesen Zeitangaben vgl. auch Schriftsatz des Klägers vom 07.07.2020). Als Differenz zwischen Soll- und Iststunden wurde für den 27.09.2019 „0“ ausgewiesen (vgl. Anlage K3 = Bl. 90 d. A.).
5
Nach vorheriger Zustimmung des Inklusionsamts und des Betriebsrats kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger durch Schreiben vom 18.10.2019 außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgemäß zum 29.02.2020.
6
Mit der rechtzeitig erhobenen Kündigungsschutzklage wendet sich der Kläger gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Er hat das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die außerordentliche Kündigung bzw. die soziale Rechtfertigung der hilfsweisen ordentlichen Kündigung bestritten. Nachdem er während der letzten 100 km der Fahrt bemerkt hätte, dass der rechte Vorderreifen Luft verliere und ein Nagel darin steckte (vgl. Klageschrift, Seite 2), habe er vergeblich die Schichtleiterin versucht zu erreichen, um sich für eine Reifenreparatur abzumelden. Dies habe er schließlich bei den Kollegen X und W getan und gesagt, er würde in ca. einer halben Stunde wiederkommen und dafür am Ende der Schicht auch länger bleiben. Ein Zuwarten sei nicht möglich gewesen, weil die Werkstatt am nächsten Tag (Samstag) geschlossen gewesen wäre. Der Kläger hat die erhebliche Störung des Vertrauensverhältnisses bestritten.
7
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags die Auffassung vertreten, dass ein Kündigungsgrund sowohl für die außerordentliche fristlose als auch für die ordentliche Kündigung vorliege. Der Kläger habe sich unerlaubt vom Arbeitsplatz entfernt. Darüber hinaus habe der Kläger bewusst und gewollt einen Arbeitszeitbetrug dadurch begangen, dass er sich unmittelbar nach seiner Ankunft am 27.09.2020 um 07:55 Uhr im Zeiterfassungssystem eingestempelt habe und kurz danach, entsprechend seiner vorgefassten Absicht – ohne im Zeiterfassungssystem vorschriftsmäßig auszustempeln – ins Auto gestiegen sei, Arbeitsplatz und Betriebsgelände wieder verlassen habe und erst um ca. 08:40 Uhr wieder zurückgekehrt sei. Damit habe der Kläger den vollendeten Versuch unternommen, die Beklagte um die Bezahlung einer Vergütung jedenfalls für eine Arbeitsstunde zu betrügen. Es wäre dem Kläger möglich gewesen, sich bei der Schichtleiterin bzw. deren Assistentin oder beim Betriebsleiter abzumelden, weil sie sich allesamt in der Nähe der Arbeitsstätte des Klägers aufgehalten und innerhalb weniger Sekunden für ihn erreichbar gewesen seien. Es habe keinen vernünftigen Grund dafür gegeben, dass der Kläger, der bereits gewusst habe, dass angeblich ein Reifen Luft verliere, sich erst in den Betrieb begebe und dort einstempele. Wäre es ihm nur darum gegangen, die Kollegin, die er angeblich mitgenommen habe, im Betrieb abzuliefern, hätte er sie lediglich aussteigen lassen müssen und wäre dann unter Inkaufnahme allenfalls des Zuspätkommens wieder weggefahren. Der Schichtführerin habe der Kläger vorgespiegelt, er sei soeben erst gekommen, d. h. lediglich zu spät gekommen. Andernfalls wäre die Schichtführerin nicht auf den Gedanken gekommen, dem Kläger wegen seines vermeintlichen Zuspätkommens lediglich eine Abmahnung über die Betriebsleitung zuzuführen. Die Beklagte hat mit Nichtwissen bestritten, dass ein Reifen am PKW des Klägers defekt gewesen sei; jedenfalls hätte dies auch unter Berücksichtigung der Ausstattung der Autobahnraststätte kein unerlaubtes Verlassen des Betriebs gerechtfertigt. Das Zusammentreffen beider Pflichtverletzungen wiege so schwer, dass es der Beklagten nicht zumutbar gewesen sei, den Kläger lediglich abzumahnen und ihn im Vertrauen darauf, er werde sich zukünftig vertragsgetreu verhalten, weiter zu beschäftigen. Dieses Vertrauen habe der Kläger vollständig und endgültig zerstört. Nach Aufdeckung seines rechtswidrigen Verhaltens habe er versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen, was den Schluss zuließe, dass eine Abmahnung nicht hätte erwarten lassen, dass der Kläger das Unrecht seines Verhaltens eingesehen und dieses künftig geändert hätte.
8
Das Arbeitsgericht München hat durch Urteil vom 17.04.2020 – 18 Ca 1451/19 – festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 18.10.20219 nicht aufgelöst worden ist, und die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Kündigungsschutzklage zu unveränderten Bedingungen als Küchenhelfer weiter zu beschäftigen. Die außerordentliche Kündigung sei gemäß § 626 BGB unwirksam, weil sie sich jedenfalls als unverhältnismäßig erweise. Es hätte der Ausspruch einer Abmahnung genügt, um das Fehlverhalten des Klägers, das unerlaubte Entfernen vom Arbeitsplatz und das unterlassene Ausstempeln, zu rügen. Mangels entsprechender Abmahnung könne deshalb nicht prognostiziert werden, dass der Kläger auch künftig vergleichbare Pflichtverletzungen begehen werde. Da der Kläger sich bemüht hätte, jedenfalls über Arbeitskollegen die Beklagte darauf hinzuweisen, dass er den Arbeitsplatz verlasse, und auch von vornherein signalisiert habe, die Arbeitszeit nachleisten zu wollen, und dies auch getan habe, spreche nichts dafür, dass eine Abmahnung von vornherein sinnlos und entbehrlich gewesen wäre. Auch die ordentliche Kündigung sei nicht sozial gerechtfertigt gem. § 1 Abs. 2 KSchG, weil es an der erforderlichen Abmahnung fehle. Der Kläger habe im Falle des Obsiegens im Kündigungsschutzprozess in erster Instanz einen Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Kündigungsschutzklage. Die Beklagte sei dem Anspruch des Klägers nicht entgegengetreten.
9
Gegen dieses, ihrem Prozessbevollmächtigten am 27.07.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.08.2020 Berufung beim Landesarbeitsgericht München eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 26.10.2020 am 26.10.2020 begründet.
10
Es liege neben dem unentschuldigten Entfernen vom Arbeitsplatz ein versuchter Arbeitszeitbetrug durch den Kläger vor. Dieser sei mit dem Einstempeln um 07:55 Uhr und dem sich anschließenden ungenehmigten Entfernen vom Arbeitsplatz und Betriebsgelände ohne ordnungsgemäßem Ausstempeln erfüllt. Mögliche geheime Vorbehalte des Klägers seien unerheblich. Da der Tatbestand des versuchten Arbeitszeitbetrugs bereits mit dem Verlassen des Arbeitsplatzes ohne vorheriges Ausstempeln erfüllt sei, komme es auf das Nachholen der Arbeitszeit am Nachmittag nicht an. Der Kläger habe zudem eine unverzüglich geschuldete Aufklärung unterlassen, als er nach Rückkehr in den Betrieb gegenüber der Schichtleiterin Frau G. mit keinem Wort erwähnt habe, dass er bereits 40 Minuten vorher eingestempelt habe. Hierdurch habe der Kläger Frau G. in dem irrigen Glauben gelassen, er sei lediglich zu spät gekommen. Frau G. habe dem Kläger deshalb zunächst lediglich wegen der verspäteten Arbeitsaufnahme eine Abmahnung über den Betriebsleiter in Aussicht gestellt. Die „Information“ an die beiden Arbeitskollegen rechtfertige das Verhalten des Klägers nicht. Der Kläger habe seine Mitfahrerin, die Zeugin X nicht angehalten, die Beklagte über seine Absicht, den Betrieb wieder zu verlassen, zu informieren. Sie habe dies auch weder versucht noch getan. Zudem bedürfe das Verlassen des Arbeitsplatzes der Erlaubnis des Arbeitgebers, die nicht vorliege. Die Kündigung sei auch nicht unverhältnismäßig. Eine vorherige Abmahnung sei entbehrlich gewesen. Der Kläger hätte nicht annehmen können, die Beklagte würde sein Verhalten hinnehmen. Er wisse um die Bedeutung der seit 9 Jahren im Einsatz befindlichen Zeiterfassung für die Vergütung. Die Zeiterfassung sei auf minutengenaue Angaben ausgelegt. Selbst wenn der Kläger beim Verlassen des Betriebs um 08:00 Uhr „vergessen“ hätte auszustempeln, hätte er bei seiner Rückkehr erneut einstempeln können. Dann hätte das Zeiterfassungssystem die Meldung „doppelt Kommen?“ angezeigt, woraufhin die Schichtleiterin oder der Betriebsleiter zur Abklärung auf den Kläger zugekommen wären. Jedenfalls hätte der Kläger die Umstände gegenüber der Schichtleiterin offenlegen können, anstatt dieser pflichtwidrig vorzuspiegeln bzw. deren offenkundig vorliegenden Irrtum, er sei einfach nur zu spät gekommen, durch bewusstes Verschweigen der tatsächlichen Umstände aufrechtzuerhalten. Im Rahmen der Interessenabwägung überwögen die Beendigungsinteressen der Beklagten deutlich die Bestandsinteressen des Klägers. Im Bereich der Gastronomie würden Arbeitskräfte dringend bzw. sogar händeringend gesucht. Die Anhörung des Klägers habe gezeigt, dass er das Unrecht seines Handelns nicht einsehe, sondern sogar noch zu beschönigen versuche.
11
Die Beklagte beantragt,
Das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 14.07.2020 – Az: 18 Ca 1451/19 – wird abgeändert und die Klage wird abgewiesen.
12
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, und schließt sich den Gründen des Erstgerichts an. Der Kläger könne wegen der Pandemie nicht leicht eine neue Anstellung finden.
13
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die Schriftsätze der Beklagten vom 26.10.2020 (Bl. 148 – 161 d. A.) und 11.01.2021 (Bl. 179 – 181 d. A.), den Schriftsatz des Klägers vom 11.11.2020 (Bl. 171 – 173 d. A.) und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14.01.2021 (Bl. 182 – 185 d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

14
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
I.
15
Die nach § 64 Abs. 2 lit. c) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
16
Die Berufung der Beklagten ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zurecht geurteilt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche fristlose noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 18.10.2019 aufgelöst worden ist. Diese Kündigungen sind unwirksam, § 626 Abs. 1 BGB und § 1 Abs. 2 KSchG. Ebenso war der Weiterbeschäftigungsantrag begründet.
17
1. Die außerordentliche Kündigung ist nach § 626 Abs. 1 BGB unwirksam.
18
a) Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Ein haltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung nicht zugemutet werden kann.
19
Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.
20
b) Danach liegt mit dem Verhalten des Klägers ein wichtiger Grund „an sich“ für eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB vor.
21
aa) Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu erfassen oder zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Dies gilt für den vorsätzlichen Missbrauch einer Stempeluhr ebenso wie für das wissentliche und vorsätzliche falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation oder Erfassung der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vertrauen können. Ãœberträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmern selbst und füllt ein Arbeitnehmer die dafür zur Verfügung gestellten Formulare wissentlich oder vorsätzlich falsch aus, so stellt dies in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar. Nicht anders zu bewerten ist es, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet ist, geleistete Arbeit in einer elektronischen Zeiterfassung zu dokumentieren und er hierbei vorsätzlich falsche Angaben macht. Darauf, ob dem Arbeitgeber durch das Verhalten ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist oder das Verhalten des Arbeitnehmers auf andere – nicht wirtschaftliche – Vorteile ausgerichtet war, kommt es grundsätzlich nicht an (vgl. BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 54 m.w.N.; Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 17).
22
Ebenso stellt es einen wichtigen Grund „an sich“ i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB dar, wenn sich der Arbeitsnehmer von seinem Arbeitsplatz unerlaubt entfernt.
23
bb) Der Kläger hat vorsätzlich und rechtswidrig gegen seine Verpflichtung, die elektronische Zeiterfassung korrekt zu bedienen, verstoßen.
24
(1) Unstreitig hat der Kläger am 27.09.2019 um 7:55 Uhr eingestempelt und, als er den Betrieb kurz darauf wieder verließ, nicht ausgestempelt. Hierdurch war in der elektronischen Zeiterfassung als Arbeitsbeginn 7:55 Uhr erfasst, obwohl der Kläger seine Arbeitsleistung nicht erbrachte.
25
(2) Der Kläger handelte auch vorsätzlich. Dem langjährig beschäftigten Kläger ist bekannt, dass er sein „Kommen“ und „Gehen“ in der elektronischen Zeiterfassung zu erfassen hat. Er hat erstinstanzlich nicht vorgetragen, dass er in Folge der Aufregung um seinen defekten Reifen „schlicht vergessen“ hätte, wieder auszustempeln. Dies ist eine Annahme des erstinstanzlichen Gerichts, die sich der Kläger erst zweitinstanzlich zu eigen gemacht hat. Diese nunmehrige Behauptung ist jedoch nicht glaubhaft. Sie lässt außer Acht, dass der Kläger trotz der angeblichen Aufregung um seinen defekten Reifen einstempelte, und zwar – wie er gegenüber dem Inklusionsamt angab – „aus Gewohnheit und zur Dokumentation seines Eintreffens“ (vgl. Anlage BB 1 = Bl. 158, 159 d. A.). Eine Erklärung dafür, warum er dann nicht aus „Gewohnheit“ beim „Gehen“ ausstempelte, gibt der Kläger nicht. Der Kläger hat auch nicht später die Ankunftszeit berichtigt. Bei Rückkehr in den Betrieb hat er nicht „aus Gewohnheit“ eingestempelt, wie er dies angeblich tut. In diesem Fall wäre es zu einer Fehlermeldung gekommen, die seine unterlassene Buchung offengelegt hätte. Der Kläger hat aber auch nicht die Schichtleiterin Frau G. auf die Buchung um 7:55 Uhr und die unterlassene Ausbuchung gegen 8:00 Uhr hingewiesen. Hierzu wäre er nach § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet gewesen, weil die Pflicht zur korrekten Erfassung der Arbeitszeit nicht nur die korrekte Buchung am Zeiterfassungssystem, sondern auch die nötigen Handlungen, um eine fehlerhafte oder unterbliebene Buchung zu berichtigen, umfasst. Indem der Kläger entgegen seiner Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 BGB die falsche Erfassung seines Arbeitszeitbeginns stehengelassen hat, hat er sie gebilligt. Darauf, ob dem Arbeitgeber in Folge dessen ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist, der im vorliegenden Fall durch das Nacharbeiten am Nachmittag fraglich sein könnte, kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht an (vgl. nochmals BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 54). Es genügt, dass das Verhalten des Arbeitnehmers auf andere – nicht wirtschaftliche – Vorteile gerichtet ist, die darin bestehen können, arbeitsrechtliche Konsequenzen zu verhindern. Selbst wenn der Kläger die fehlende Arbeitszeit am Morgen durch ein Nacharbeiten am Nachmitttag hätte ausgleichen wollen, hätte er durch das Einstempeln um 7:55 Uhr und das unterlassene Ausstempeln bzw. die Anzeige von fehlerhaften bzw. unterlassenen Buchungen der Beklagten Arbeitszeiten vorgespiegelt, die er in Wirklichkeit nicht geleistet hat (vgl. BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 51). Der Vorsatz des Klägers muss sich nicht auf die Erschleichung von Vergütung für nicht geleistete Arbeit beziehen.
26
(3) Das Verhalten des Klägers war auch nicht gerechtfertigt. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, er habe sich bei seinen Kollegen Frau X und Herrn W abgemeldet und gesagt „er würde in ca. einer halben Stunde wiederkommen und dafür am Ende der Schicht auch länger bleiben“ (vgl. Schriftsatz vom 21.01.2020, S. 1). Diese Mitteilung, die mangels Vorgesetztenfunktion der Kollegen schon nicht an diese zu richten war, sagt über die Erfassung der Arbeitszeit durch den Kläger nichts aus. Die Kollegen konnten der Mitteilung nur entnehmen, dass der Kläger länger arbeiten würde. Ob der Kläger beim Verlassen des Betriebs ausstempeln und damit eine korrekte Erfassung der Arbeitszeit ermöglichen würde, stand zum Zeitpunkt der Mitteilung an die Kollegen noch gar nicht fest. Im Übrigen konnte diese Erklärung eher den Eindruck hervorrufen, der Kläger werde seine Arbeitsleistung am 27.09.2019 korrekt erbringen, wozu das korrekte Ausstempeln bzw. die Berichtigung falscher oder unterlassener Buchung gehört. Schließlich hat der Kläger die Kollegen nicht aufgefordert, die Vorgesetzten entsprechend zu informieren, sodass die Mitteilung schon nicht geeignet war, das Verhalten des Kläger gegenüber der Beklagten zu entschuldigen.
27
Darüber hinaus kann sich der Kläger für sein Verhalten nicht auf die am 27.09.2019 durchzuführende Reifenreparatur berufen. Eine erforderliche Reparatur hätte den Kläger nicht daran gehindert, seine Arbeitszeiten korrekt zu erfassen.
28
cc) Zu Recht hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass der Kläger, als er unentschuldigt den Arbeitsplatz am 27.09.2019 wieder verlassen hat, vorsätzlich gegen seine Pflicht zur Arbeitserbringung und seine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Beklagten verstoßen hat.
29
Auch dieses Verhalten des Klägers war nicht gerechtfertigt. Die Mitteilung, er würde in ca. einer halben Stunde wiederkommen und dafür am Ende der Schicht auch länger bleiben, hätte – wie bereits ausgeführt – gegenüber den Vorgesetzten, nicht aber den Kollegen erfolgen müssen. Im Ãœbrigen hätte die Reifenreparatur, die nur kurz währte, auch zu einem späteren Zeitpunkt am Vormittag ausgeführt werden können, nämlich nachdem der Kläger die Erlaubnis seiner Vorgesetzten eingeholt hätte.
30
c) Die außerordentliche Kündigung erweist sich jedoch aufgrund der vorzunehmenden Interessenabwägung als unverhältnismäßig.
31
aa) Bei der Prüfung gem. § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der – fiktiven – Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein „schonenderes“ Gestaltungsmittel – etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung – gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses – zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (vgl. zu allem BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 28 – 29 m.w.N.)
32
Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder dass es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – 30 m.w.N.; Urteil vom 27.02.2020 – 2 AZR 570/19 – Rn. 23).
33
bb) Bei Abwägung der Umstände im vorliegenden Fall stellt sich die außerordentliche Kündigung mit sofortiger Wirkung gegenüber dem Kläger als unverhältnismäßig dar.
34
(1) Als Reaktion der Beklagten auf das Fehlverhalten des Klägers hätte eine Abmahnung ausgereicht.
35
Zwar liegt dem Verhalten des Klägers eine schwere Pflichtverletzung vor. Er hat am Morgen des 27.09.2019 mehrfach die Arbeitszeit nicht korrekt erfasst bzw. auf ihre korrekte Erfassung hingewirkt. Dieses Verhalten ist geeignet, das Vertrauen der Beklagten in die zukünftig korrekte Erfassung der Arbeitszeiten durch den Kläger zu erschüttern. Jedoch hat der Kläger in dem elf Jahre bestehenden Arbeitsverhältnis erstmalig seine Pflicht zur korrekten Arbeitszeiterfassung verletzt (vgl. grundlegend BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – (Emmely) Rn. 32 ff., 46), und zwar durch Erfassung eines um 40 Minuten zu früh dokumentierten Arbeitszeitbeginns. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von den bereits vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Konstellationen zur falschen Arbeitszeitdokumentation, in denen ein Arbeitnehmer fünf Jahre lang monatlich sieben Ãœberstunden unberechtigt geltend gemacht (siehe BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 25) oder an sieben Arbeitstagen hintereinander Arbeitszeit im Umfang von jeweils 13-28 Minuten zu Lasten des Arbeitsgebers falsch angegeben hatte (vgl. BAG, Urteil vom 09.06.2011 – 2 AZR 381/10 – Rn. 23), weshalb der Arbeitnehmer nicht hätte annehmen dürfen, dass der Arbeitgeber sein Verhalten hinnehmen würde (siehe BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 33) bzw. wegen des auf Heimlichkeit angelegten, vorsätzlichen und systematischen Fehlverhaltens eine besonders schwere Störung der für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderlichen Vertrauensgrundlage vorläge, die es rechtfertige, das Arbeitsverhältnis ohne vorherige Abmahnung mit sofortiger Wirkung zu kündigen (vgl. BAG, Urteil vom 09.06.2011 – 2 AZR 381/10 – Rn. 20). Entgegen der Auffassung der Beklagten rechtfertigt auch die Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 06.10.2010 – 6 Sa 293/10 -) keine abweichende Beurteilung. Im dortigen Fall hatte sich der Arbeitnehmer an einem Tag mindestens 35 Minuten mehr Arbeitszeit aufgeschrieben als tatsächlich geleistet. Im vorliegenden Fall wurde als Differenz zwischen Soll- und Iststunden für den 27.09.2019 „0“ ausgewiesen (Anlage K3 = Bl. 90 d. A.).
36
Soweit die Beklagte geltend macht, der Kläger hätte keinen Anlass zu der Annahme gehabt, die Beklagte würde sein Verhalten hinnehmen, weil es im Betrieb üblich sei, dass jeder Mitarbeiter, der entgegen den bestehenden Regelungen unerlaubt während der Arbeitszeit das Betriebsgelände verlässt, wegen Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Obliegenheiten abgemahnt werde (vgl. Schriftsatz vom 05.12.2019, S. 2 = Bl. 24 d. A.) und auch eine unentschuldigte, verspätete Arbeitsaufnahme regelmäßig mit einer Abmahnung geahndet werde (vgl. Schriftsatz vom 26.10.2020, S. 7 = Bl. 154 d. A), übersieht sie, dass es für die Frage der Entbehrlichkeit einer Abmahnung auf einen objektiven Maßstab ankommt. Die Frage, ob die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist, ist aus der Sicht eines objektiven Betrachters zu beantworten (vgl. BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 30 m.w.N.) und im Anschluss an die vorstehenden AusDie Abmahnung ist im vorliegenden Fall aber auch nicht deshalb entbehrlich, weil bereits ex ante erkennbar gewesen wäre, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft nach einer Abmahnung nicht zu erwarten stand. Dies hat das Arbeitsgericht verneint. Die Beklagte ist dem nicht entgegengetreten; sie hat sich für die Entbehrlichkeit der Abmahnung hinsichtlich des versuchten Arbeitszeitbetrugs vielmehr auf die Alternative „schwere Pflichtverletzung, deren Hinnahme durch den Arbeitgeber nicht erwartetet werden könne“ berufen, die vorstehend verneint wurde. Darüber hinaus ist unstreitig, dass der Kläger beim Verlassen des Betriebs gegenüber den Kollegen angekündigt hatte, „dafür am Ende der Schicht auch länger (zu) bleiben“. Denn die Beklagte hat insoweit lediglich vorgetragen, dass der Kläger die Kollegin Frau X nicht angehalten habe, die Beklagte über seine Absicht, den Betrieb wieder zu verlassen, zu informieren; die Behauptungen des Klägers gegenüber den Arbeitskollegen hat sie nicht in Frage gestellt. Damit wäre es dem Kläger nicht darum gegangen, Vergütung zu Unrecht zu erhalten, sondern unbemerkt während der Arbeitszeit das Betriebsgelände zu verlassen. Ist es aber nach dem Vortrag der Beklagten im Betrieb üblich, dass jeder Mitarbeiter, der unerlaubt während der Arbeitszeit das Betriebsgelände verlässt, wegen Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Obliegenheiten abgemahnt wird, hätte sie Gründe, warum sie hiervon im Fall des Klägers absehen durfte, vorgetragen müssen. Die Beklagte geht selbst davon aus, dass in diesen Fällen eine Verhaltensänderung in der Zukunft grundsätzlich erwartet werden kann.
führungen zu verneinen.
37
Dementsprechend war auch eine Abmahnung wegen des Pflichtstoßes des unerlaubten Entfernens vom Arbeitsplatz, den das Arbeitsgericht bejaht hat, auszusprechen und die außerordentliche Kündigung nicht das mildere Mittel.
38
(2) Hilfsweise stützt die Kammer ihre Entscheidung darauf, dass die außerordentliche Kündigung auch dann unverhältnismäßig ist, wenn eine Abmahnung entbehrlich gewesen wäre.
39
Der Kläger ist Jahrgang 0000 und mit einem Grad von 70 schwerbehindert. Seine Chance, sofort mit Ausspruch der außerordentlichen, fristlosen Kündigung einen neuen Arbeitsplatz zu finden, war daher gegenüber jüngeren und gesunden Arbeitnehmern deutlich gemindert. Zu einem wirtschaftlichen Schaden ist es wegen der erfolgten Nacharbeit nicht gekommen. Es war das erste Mal, dass der Kläger seine Arbeitszeit während des elfjährigen Bestehens des Arbeitsverhältnisses nachweislich nicht korrekt erfasst hat. Zur Vorbeugung einer Wiederholungsgefahr hätte die Beklagten den Kläger zeitweise – jedenfalls für die Dauer der Kündigungsfrist – anweisen können, sich jeweils zu Schichtbeginn und – ende persönlich bei der Schichtleitung an- und abzumelden. Soweit die Beklagte in der Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht vorgetragen hat, es habe mit dem Verhalten des Klägers in den vergangenen Jahren Probleme gegeben, „er tue, was er wolle“, ist dies zunächst durch Abmahnung zu rügen.
40
2. Die hilfsweise ordentliche Kündigung ist nach § 1 Abs. 1 und 2 KSchG unwirksam.
41
Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt. Sie ist nicht durch Gründe im Verhalten des Klägers i. S. v. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt. Sie ist auf denselben Lebenssachverhalt gestützt wie außerordentliche Kündigung. Der Beklagten war es aus den dargelegten Gründen zuzumuten, auf das mildere Mittel der Abmahnung zurückzugreifen.
42
Ergänzend stützt sich die Kammer auf die Interessenabwägung im weiteren Sinn.
43
3. Dem zugesprochenen Weiterbeschäftigungsanspruch ist die Beklagte in ihrer Berufung nicht entgegengetreten.
III.
44
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
IV.
45
Es bestand kein Grund, die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen, § 72 Abs. 2 ArbGG.

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