Die Mitteilung einer vermuteten oder möglichen Schwangerschaft ist ausreichend, um den Sonderkündigungsschutz aus § 17 MuSchG auszulösen. So lautet der Leitsatz des LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2018 – 10 Sa 1509/17.
Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen hat der beklagte Arbeitgeber Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht eingelegt. Das Verfahren wird unter dem AZ BAG 2 AZN 382/18 geführt. Rechtsanwalt Moegelin vertritt die Klägerin und Arbeitnehmerin seit der 2. Instanz. Die Beschwerde sollte zurückgewiesen werden, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Zutreffend hat das LAG auf die Rechtsprechung verwiesen (EuGH C-232/09; BAG 2 AZR 278/73; BAG 2 AZR 270/90), wonach die Mitteilung einer vermuteten Schwangerschaft ausreicht. In Anbetracht der Rechtsprechung zu genau dieser Sache erscheint die Sache nicht klärungsbedüftig.
Sollte der Beschwerde dennoch stattgegeben werden und sogar zugunsten der Beklagten entschieden werden, wonach die hier erfolgte Mitteilung nicht ausreicht für den Sonderkündigungsschutz sein soll, kommt es darauf an, ob die Kündigung überhaupt zugegangen ist. Das LAG hat das konsequenterweise offengelassen, da es seiner Meinung nach darauf nicht ankam.
Volltext des Urteils des LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2018 – 10 Sa 1509/17 (Siehe auch Gerichtsentscheidungen Berlin-Brandenburg)
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 15. September 2017 – 26 Ca 944/17 – abgeändert.
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch eine Kündigung der Beklagten vom 19. Dezember 2016 oder per E-Mail vom 5. Januar 2017 nicht aufgelöst worden ist.
II.  Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
III. Der Gebührenwert des Berufungsverfahrens wird auf 3.900,00 EUR festgesetzt.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1  Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen Kündigung im zeitlichen Zusammenhang mit einer Schwangerschaft der Klägerin.
2 Die Klägerin ist 29 Jahre alt (… 1988) und stand seit dem 1. September 2016 zunächst befristet und seit dem 1. Dezember 2016 unbefristet in einem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten als kaufmännische Bürokraft bei 30 Wochenstunden und einer Vergütung von 1.300,00 EUR brutto.
3 Die Klägerin war arbeitsunfähig krank. Weil die Arbeitsunfähigkeit durch eine Gynäkologin bescheinigt war, fragte der Geschäftsführer der Beklagten wie auch die Büroleitung nach dem Grund der Arbeitsunfähigkeit. Die Kommunikation zwischen den Parteien erfolgte üblicherweise per WhatsApp und per E-Mail.
4 Am 14. Dezember 2016 teilte die Klägerin per E-Mail der Beklagten mit:
5Â Â Hallo Ihr Lieben,
ich fühle mich noch nicht wirklich gut, sodass ich nicht kommen kann.
Ihr fragt euch bestimmt, ob ich schwanger bin. Das kann ich selbst nicht ganz beantworten. Habe auch keine Arbeitgeberbescheinigung oder ähnliches bekommen. Geplant war das auch nicht, wir haben gerade den Kaufvertrag für ein Haus unterschrieben, Baubeginn ist im Frühjahr 2017.
Es sieht momentan so aus, als wäre eine Fruchthöhle da… mehr kann ich euch nicht sagen! Zudem kamen durch den Sturz noch einige Komplikationen. Ich hoffe ihr wisst die Offenheit zu schätzen.
6 Unter dem 19. Dezember 2016 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin, nach Darlegung der Beklagten mittels Einwurf-Einschreiben unter der Sendungsnummer RE 4637 07887 DE mit einer Einlieferung am 19. Dezember 2016 um 13:26 Uhr. Nach einem handschriftlichen Zusatz einer Mitarbeiterin der Beklagten auf dem Einlieferungsbeleg handelte es sich um die Kündigung der Klägerin. Ob die Kündigung der Klägerin zugegangen ist, ist zwischen den Parteien streitig. Nach den Unterlagen der Deutschen Post wurde eine Sendung mit der Sendungsnummer RE 4637 0788 7DE am 20. Dezember 2016 zugestellt. Was wem zugestellt wurde, ist der Sendungsverfolgung nicht zu entnehmen. Dem reproduzierten Auslieferungsbeleg der Deutschen Post kann entnommen werden, dass es sich um eine Auslieferung im Postleitzahlbereich …, also dem Wohnbereich der Klägerin, handelte.
7 Mit E-Mail vom 28. Dezember 2016 teilte die Klägerin der Beklagten u.a. mit:
8 „Nun gut, ich bin schwanger.“
9 Am 4. Januar 2017 teilte der Geschäftsführer der Beklagten der Klägerin per E-Mail mit, dass sie in den nächsten Tagen die Büroschlüssel vorbeibringen solle. Nach Mitteilung der Klägerin, dass sie so schnell wie möglich wieder zur Arbeit kommen wolle, erklärte der Geschäftsführer der Beklagten mit E-Mail vom 5. Januar 2017 an die Klägerin, dass der Arbeitsvertrag zum 31.01.2017 aufgelöst sei. Die Klägerin antwortete, dass die Bestätigung über ihre Schwangerschaft per Post auf dem Weg zur Beklagten sei. Deshalb sei die Kündigung unwirksam. Falls die Rücknahme nicht innerhalb von 5 Werktagen bestätigt werde, müsse sie leider Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht einreichen. Zusätzlich fügte die Klägerin an: „Ich bin gerade mehr als traurig und schockiert, denn ich habe mich sehr wohl bei Ihnen gefühlt und möchte so schnell wie möglich wieder zur Arbeit kommen.“ Mit E-Mail vom 11. Januar 2017 wies die Beklagte die Klägerin auf den Zugang der Kündigung am 20. Dezember 2016 hin.
10 Am 23. Januar 2017 erhob die Klägerin durch ihre damaligen Prozessbevollmächtigten Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Berlin. Sie trägt vor, eine schriftliche Kündigung der Beklagten nicht erhalten zu haben. Die Belege der Post würden den Zugang der Kündigung nicht dokumentieren. Die Klägerin wohne in einem Haus mit 12 Mietparteien. Die Klägerin und ihr Ehemann (damals Lebensgefährte) hätten den Briefkasten mindestens zweimal täglich kontrolliert und die Post herausgeholt. Da die Klägerin aufgrund eines Sturzes arbeitsunfähig gewesen sei, habe der Ehemann der Klägerin in der Zeit des angeblichen Kündigungszugangs den Briefkasten stets nach der Arbeit bei Rückkehr nach Hause kontrolliert, die Post mit nach Hause genommen und seiner Ehefrau übergeben. Das behauptete Kündigungsschreiben sei nicht dabei gewesen. Während der Dauer des Arbeitsverhältnisses sei Frau A. nie mit dem Geschäftsführer irgendwohin gefahren. Bei zwei Anlässen habe die Klägerin selbst die Erfahrung gemacht, dass der Geschäftsführer auch Mitarbeiterkündigungen selbst zur Post gebracht habe, nie jedoch mit der Büroleiterin Frau A. gemeinsam.
11  Die Beklagte erwidert, dass etwaige arbeitsrechtliche Kündigungen üblicherweise vom Geschäftsführer der Beklagten persönlich übergeben würden. Nur wenn der betroffene Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank sei, bringe er das Kündigungsschreiben im Beisein eines Zeugen zur Post. Hier habe er das Kündigungsschreiben im Beisein der Mitarbeiterin Daniela A. persönlich am 19. Dezember 2016 geschrieben, ausgedruckt und in einen Umschlag gepackt. Anschließend habe er gegen 13:00 Uhr den Umschlag mit dem Kündigungsschreiben mit seinem Auto im Beisein von Frau A. zur Postfiliale in der Bernauer Straße gebracht und den Versand als Einwurf-Einschreiben veranlasst. Nach Rückkehr in den Betrieb habe er der Buchhalterin I. B. den Einlieferungsbeleg gegeben und mitgeteilt, dass es sich um den Einlieferungsbeleg hinsichtlich des die Klägerin betreffenden Kündigungsschreibens handele, worauf Frau B. auf dem Einlieferungsbeleg den Vermerk „Kündigung, B.“ notiert habe. In der Zeit der tatsächlichen Beschäftigung der Klägerin sei es nur zu einer weiteren Kündigung gekommen, die persönlich übergeben worden sei.
12  Nach Durchführung einer Beweisaufnahme durch Vernehmung des Ehemannes der Klägerin ist das Arbeitsgericht im Urteil vom 15. September 2017 davon ausgegangen, dass die Klägerin den durch den Einlieferungsbeleg und den Auslieferungsbeleg der Deutschen Post bestehenden Beweis des ersten Anscheins nicht hinreichend erschüttert habe. Danach sei davon auszugehen, dass die Kündigung der Klägerin am 20. Dezember 2016 zugegangen sei. Die Klage gegen diese Kündigung habe deshalb nach § 4 Satz 1 KSchG innerhalb der Klagefrist von drei Wochen bis zum 10. Januar 2017 beim Arbeitsgericht eingehen müssen. Die Sondervorschrift des § 4 Satz 4 KSchG greife nicht, da die E-Mail der Klägerin vom 14. Dezember 2016 für einen neutralen Leser in erster Linie so zu verstehen gewesen sei, dass möglicherweise eine Schwangerschaft bestehe. Jedenfalls sei eine positive und sichere Kenntnis der Beklagten damit nicht verbunden gewesen. Die Beklagte habe keine weitergehende Aufklärungspflicht gehabt.
13  Gegen dieses den damaligen Klägerinvertretern am 16. Oktober 2017 zugestellte Urteil legte die Klägerin am 15. November 2017 Berufung ein und begründete diese nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist am 12. Januar 2018. Der Auslieferungsbeleg beinhalte weder den Namen noch die Adresse des Empfängers. Ein Erfahrungssatz, wie ihn das Arbeitsgericht aufgestellt habe, dass es unwahrscheinlich sei, dass ein Schriftstück der Beklagten für denselben Postleitzahlbereich am 19. Dezember 2016 aufgegeben worden sei, könne nicht angenommen werden. Die Beklagte habe sich nicht dazu erklärt, ob es eine weitere Zustellung an die besagte Postleitzahl gegeben habe. Frau A. habe früher in dem Wohngebiet „Sonnengarten“ gewohnt und aktuell dort auch noch Freunde und Bekannte und einen engen Verwandten, wohl ihren Bruder C. S., Am K. .. 16548 G.. Das Arbeitsgericht habe die Beweiswürdigung unzutreffend vorgenommen. Die Wertungen des Gerichts zum Vortrag der Klägerin seien widersprüchlich, wenn ihr einerseits kein wahrheitswidriger Vortrag unterstellt werde, andererseits aber ein Öffnen des Briefes durch die Klägerin für möglich gehalten werde. Die Annahme des Arbeitsgerichts, dass auch ein Wegwerfen des Briefes zusammen mit Werbung erfolgt sein könne, entbehre jeder Grundlage. Werbung komme in Folie oder Umschlag verpackt oder als einzelnes Blatt. Dort könne kein Brief hineingeraten. Es handele sich um eine reine Spekulation des Arbeitsgerichts. Es hätte zumindest die Parteianhörung der Klägerin erfolgen müssen.
14  Die Klägerin habe aber auch mit ihrem Fortbestehensantrag bereits in der Klageschrift und auch später die nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage beantragt.
15  Die E-Mail vom 14. Dezember 2016 möge ein wenig umständlich klingen, jedoch bringe sie im Kern unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Klägerin schwanger sei. Hätte die Beklagte die Erklärung unklar oder mehrdeutig empfunden, wäre eine Nachfrage erforderlich, möglich und zumutbar gewesen, um die letztendliche Klarheit zu erzielen. Bei der Mitteilung der Schwangerschaft müsse hinsichtlich der Auslegung der Erklärung auch ein weniger strenger Maßstab gelten als beim Abschluss eines Vertrages.
16 Die Klägerin beantragt,
17  das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 15. September 2017 – 26 Ca 944/17 – abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch eine angebliche Kündigung der Beklagten vom 19. Dezember 2016 oder die E-Mail vom 5. Januar 2017 nicht aufgelöst wurde.
18Â Â Die Beklagte beantragt,
19  die Berufung zurückzuweisen.
20  Die Beklagte erwidert, dass der Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Arbeitsgericht die Kündigung vom 19. Dezember 2016 am 20. Dezember 2016 zugegangen sei. Mit der Klageerhebung am 23. Januar 2017 habe sie die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG versäumt.
21 Ein- und Auslieferungsbeleg hätten die gleiche Sendungsnummer getragen und der Einlieferungsbeleg den Zusatz „Kündigung B.“. Der Brief sei auch der einzige gewesen, den der Geschäftsführer und Frau A. an dem Tag zur Post gebracht hätten. Der Vortrag der Klägerin in der Berufung entkräfte den Vortrag der Beklagten nicht. Der von der Klägerin geschilderte mögliche alternative Geschehensablauf einer eingeschriebenen Briefsendung an eine andere Person im Postleitzahlbereich sei schlichtweg abwegig. Die Beweiswürdigung durch das Arbeitsgericht sei zutreffend erfolgt. Der Zeuge habe nicht ausschließen können, dass die Klägerin an jenem Tag selbst aus dem Briefkasten genommen hätte.
22  Ein Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage sei erstinstanzlich nicht gestellt worden. Die Klägerin habe sich durchgängig nur auf den fehlenden Zugang der Kündigung berufen. Die Kenntnisnahme von der Schwangerschaft sei zu keinem Zeitpunkt thematisiert worden. Es könne der Klägerin auch nicht gefolgt werden, dass die E-Mail vom 14. Dezember 2016 die Mitteilung einer Schwangerschaft beinhaltet habe. Die Klägerin selbst habe mitgeteilt, dass sie nicht wisse, ob sie schwanger sei. Dann könne die Beklagte das erst recht nicht wissen. Eine positive Kenntnis der Beklagten von der Schwangerschaft könne jedenfalls ausgeschlossen werden. Diese habe erst mit der E-Mail vom 28. Dezember 2016 vorgelegen und zwar aufgrund einer Nachfrage der Beklagten nach dem Grund der Arbeitsunfähigkeit.
23  Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der Berufungsbegründung der Klägerin vom 9. Januar 2018 und ihren Schriftsatz vom 9. März 2017 sowie den vorgetragenen Inhalt der Berufungserwiderung der Beklagten vom 16. Februar 2018 und ihren Schriftsatz vom 1. März 2018 sowie das Sitzungsprotokoll vom 15. März 2018 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
24  Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht im Sinne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und begründet worden.
II.
25  Die Berufung ist auch begründet. Denn die Klägerin war zum Kündigungszeitpunkt unstreitig schwanger und hatte der Beklagten mit ihrer E-Mail vom 14. Dezember 2016 eine vermutete Schwangerschaft mitgeteilt.
1.
26  Wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, hatte die Beklagte zum Zeitpunkt des vom Arbeitsgericht angenommenen Zeitpunkts des Zugangs der Kündigung keine sichere Kenntnis von der Schwangerschaft der Klägerin. Auch die E-Mail der Klägerin vom 14. Dezember 2016 beinhaltete keine solche – sichere – Mitteilung. Auch die Anzeige einer vermuteten Schwangerschaft ist jedoch ausreichend, um den Sonderkündigungsschutz des § 9 MuSchG (bzw. seit dem 1.1.2018 § 17 MuSchG) auszulösen, wenn zum Kündigungszeitpunkt tatsächlich eine Schwangerschaft besteht (vgl. BAG, Urteil vom 15. November 1990 – 2 AZR 270/90).
1.1
27  Nach dem Wortlaut des seinerzeit maßgeblichen § 9 MuSchG musste die Mitteilung der Klägerin, die an keine besondere Form gebunden war, „die Schwangerschaft oder Entbindung“ zum Gegenstand haben. Aus der Mitteilung musste nicht hervorgehen, dass sich die Klägerin auf den besonderen Kündigungsschutz berufe. Der besondere Kündigungsschutz des § 9 MuSchG greift kraft Gesetzes ein. Der konkrete Inhalt der Mitteilung ist im Gesetz nicht näher beschrieben. Im Interesse der Effektivität des Mutterschutzes sind solche Beeinträchtigungen der Rechtssicherheit des Arbeitgebers hinzunehmen, die sich aufgrund der besonderen Ungewissheitslage, wie sie für beginnende Schwangerschaften typisch ist, nicht vermeiden lassen. Die Mitteilung muss dem Arbeitgeber deswegen noch keine sichere Kenntnis von der Schwangerschaft vermitteln (vgl. KR-Gallner, MuSchG § 9 RN 57 m.w.N.). Es reicht aus, wenn die Arbeitnehmerin dem Arbeitgeber ohne sofortigen Nachweis eine ihm noch nicht bekannte Schwangerschaft anzeigt oder ihm mitteilt, sie sei zum Zeitpunkt der Kündigung vermutlich schwanger gewesen. Um den besonderen Kündigungsschutz zu erhalten, genügt auch eine nur vorsorgliche Mitteilung der Arbeitnehmerin, eine Schwangerschaft sei wahrscheinlich oder werde vermutet (BAG, Urteil vom 6. Juni 1974 (2 AZR 278/73); KR-Gallner, MuSchG § 9 Rn 57; Buchner/Becker § 9 MuSchG Rn 114; Gröninger/Thomas § 9 MuSchG Rn 29; APS-Rolfs § 9 MuSchG Rn 35; KDZ-Söhngen § 9 MuSchG Rn 31).
1.2
28 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 11. November 2010 (C-232/09) zur Richtlinie 92/85/EWG – Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz – ist der Begriff „schwangere Arbeitnehmerin“ weit auszulegen und damit die Anforderung an eine Mitteilung der Schwangerschaft nicht besonders hoch. Bereits in der Entscheidung 1 AZR 454/59 vom 5. Mai 1961 hatte das BAG entsprechend unter Ziffer 1 der Gründe ausgeführt:
29  Der bloße Wortlaut des Gesetzes, wonach „die“ Schwangerschaft mitzuteilen ist, mag für die Auffassung der Beklagten ins Feld geführt werden können. Eine sachgemäße Auslegung darf aber nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks haften, sondern muss den wirklichen Willen des Gesetzgebers erforschen und diesen der Rechtsfindung zugrunde legen (§ 133 BGB). In diesem Zusammenhang ist als sicher davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die natürlichen Gegebenheiten bei einer Schwangerschaft bekannt gewesen sind. Da der Kündigungsschutz für werdende Mütter zeitlich nicht beschränkt ist, sondern vom Beginn der Schwangerschaft an gewährt wird, sind auch die Fälle in die Regelung einbezogen, in denen bei einer vom Arbeitgeber erklärten Kündigung nicht sofort mit Sicherheit das Bestehen einer Schwangerschaft mitgeteilt werden kann, weil eine Schwangerschaft im Anfangsstadium vielfach nur schwer zuverlässig festzustellen ist. Damit hat der Gesetzgeber in Kauf genommen, dass die für den Eintritt des Kündigungsschutzes erhebliche Mitteilung der Schwangerschaft im Frühstadium regelmäßig nur in der Form erfolgt, dass eine Schwangerschaftsvermutung bestehe oder dass das Vorliegen einer Schwangerschaft wahrscheinlich sei. Würde eine derartige Mitteilung nicht anerkannt, dann wäre die Arbeitnehmerin u.U. zur Unehrlichkeit gezwungen, indem sie eine Schwangerschaft fest behaupten müsste, obwohl sie diese nur vermuten kann; andernfalls ginge sie des vom Gesetz auch einer solchen Frau zugedachten Schutzes verlustig. Diese Auslegung des § 9 Abs. 1 MuSchG entspricht der weit überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum.
30  In der Entscheidung 2 AZR 278/73 vom 6. Juni 1974 hatte das BAG unter III 1 der Gründe auf gleicher Linie ausgeführt:
31 „Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 9 Abs. 1 MuSchG ist die Kündigung unter zwei Voraussetzungen unzulässig: Die Kündigung muss während einer Schwangerschaft ausgesprochen worden sein und die gekündigte Arbeitnehmerin muss dem Arbeitgeber, wenn er von dem Bestehen der Schwangerschaft noch nicht unterrichtet war, diese innerhalb von zwei Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt haben. Ein Nachweis der Schwangerschaft wird in § 9 MuSchG nicht gefordert. Die Mitteilung der Schwangerschaft, auf die § 9 Abs. 1 MuSchG abstellt, und der Nachweis der Schwangerschaft werden im Mutterschutzgesetz als zwei rechtlich voneinander zu unterscheidende Vorgänge behandelt. Das lässt § 5 Abs. 1 MuSchG erkennen, wonach eine werdende Mutter dem Arbeitgeber ihre Schwangerschaft nur mitteilen soll und erst auf Verlangen des Arbeitgebers gehalten ist, die Schwangerschaft durch das Zeugnis eines Arztes oder einer Hebamme nachzuweisen. Die Mitteilung im Sinne des § 9 Abs. 1 MuSchG braucht zudem nicht so beschaffen zu sein, dass sie dem Arbeitgeber bereits eine sichere Kenntnis von der Schwangerschaft vermittelt. Aus diesem Grunde genügt es, wenn die Arbeitnehmerin dem Arbeitgeber innerhalb der Zweiwochenfrist des § 9 Abs. 1 MuSchG ohne sofortigen Nachweis eine dem Arbeitgeber noch nicht bekannte Schwangerschaft anzeigt oder ihm mitteilt, dass sie vermutlich schwanger sei.
32
- a) Diese Rechtslage ist aufgrund der Neufassung des § 9 MuSchG durch das Änderungsgesetz vom 24. August 1965 (BGBl. I, 912) nicht verändert worden. Nachdem der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts bereits in der Entscheidung vom 5. Mai 1961 die vorsorgliche Mitteilung der Arbeitnehmerin, eine Schwangerschaft sei wahrscheinlich oder werde vermutet, für ausreichend erachtet hatte, ohne einen Nachweis innerhalb der Mitteilungsfrist zu verlangen, hat es der Gesetzgeber gleichwohl bei dem so durch die Rechtsprechung ausgelegten Begriff der Mitteilung in § 9 Abs. 1 MuSchG belassen. Ein Nachweis der Schwangerschaft ist weiterhin nur in § 5 Abs. 1 MuSchG vorgesehen.
33  Auch in der Entscheidung des BAG vom 15. November 1990 – 2 AZR 270/90 hat dieses erneut ausgeführt:
34  „…Dem steht nicht entgegen, dass bereits die Mitteilung einer vermuteten Schwangerschaft ausreicht. Hierbei handelt es sich, wie in dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 5. Mai 1961 – 1 AZR 454/89 – ausgeführt, lediglich um den Inhalt der Mitteilung, die im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Feststellung der Schwangerschaft im Frühstadium für ausreichend anzusehen ist. Auch diese Mitteilung muss jedoch die Vermutung einer kündigungsrelevanten Schwangerschaft zum Inhalt haben. Die Rechtssicherheit für den Arbeitgeber, die die Vorschrift gewährleisten will, muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts nur insoweit zurücktreten, als Art. 6 Abs. 4 GG entgegensteht oder Schwierigkeiten der Feststellung der Schwangerschaft im Anfangsstadium eine Einschränkung der Anzeigeobliegenheit gebieten.
35  Dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung folgen die Instanzgerichte. So hat das LAG Düsseldorf mit Urteil vom 23. Juli 2002 (16 Sa 162/02) entschieden:
36  Auch die fristgerechte Mitteilung einer nur vermuteten oder möglichen Schwangerschaft genügt zur Erhaltung des Sonderkündigungsschutzes nach § 9 MuSchG (BAG vom 15.11.1990 – 2 AZR 270/90).
37 Und das ArbG Oldenburg hat noch mit Urteil vom 4. März 2015 (2 Ca 544/14) ausgeführt:
38  „Im Frühstadium einer Schwangerschaft ist es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausreichend, wenn die Mitteilung lediglich die Vermutung einer kündigungsrelevanten Schwangerschaft zum Inhalt hat. Die Rechtssicherheit für den Arbeitgeber tritt zurück, da Schwierigkeiten bei der Feststellung der Schwangerschaft eine Einschränkung der Anzeigeobliegenheit erfordern.“
2.
39  Die E-Mail der Klägerin vom 14. Dezember 2016 ist auslegungsbedürftig (§ 133 BGB).
2.1
40  Nach § 133 BGB ist der wirkliche Wille der Erklärenden zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Ausgehend vom Wortlaut der Erklärung ist der objektive Bedeutungsgehalt zu ermitteln. In die Auslegung einzubeziehen sind auch die Begleitumstände der Erklärung, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen (vgl. BAG, Urteil vom 18. Juli 2013 – 6 AZR 47/12). Im Zweifel sind Erklärungen so auszulegen, dass das gewollt ist, was aus Sicht der Erklärenden nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht. Dabei sind die schutzwürdigen Belange des Adressaten der Erklärung zu berücksichtigen (vgl. BAG, Urteil vom 7. Juli 2015 – 10 AZR 416/14)
2.2
41  Ausgangspunkt der E-Mail der Klägerin vom 14. Dezember 2016 war eine Nachfrage der Beklagten, was der Anlass für die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin sei. Mit dem Satz „Das kann ich selbst nicht ganz beantworten“, dem Hinweis darauf, dass es „momentan so aus[sieht], als wäre eine Fruchthöhle da …“ und dem Nachsatz, dass es „durch den Sturz noch einige Komplikationen [gab], hat die Klägerin nach Ansicht der Kammer gegenüber der Beklagten eine vermutete Schwangerschaft angezeigt.
42  Nur diese Bedeutung ihrer Erklärung ist nach den Maßstäben der oben unter 1.2 dargestellten Rechtsordnung vernünftig und entsprach der wohlverstandenen Interessenlage der Klägerin. Schutzwürdige Belange der Beklagten sind dadurch nicht verletzt. Denn einerseits hatte die Beklagte ausdrücklich nach dem Grund der Arbeitsunfähigkeit gefragt und andererseits enthält Art 6 Abs. 4 GG den bindenden Auftrag, jeder Mutter Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft angedeihen zu lassen. Dieser Verfassungsauftrag erstreckt sich insbesondere auf den Schutz der werdenden Mutter (BVerfG, Beschluss vom 13. November 1979 – 1 BvL 24/77, 19/78 und 38/79). Dem trägt § 9 MuSchG (jetzt § 17 MuschG) durch das prinzipielle Verbot der Kündigung einer werdenden Mutter Rechnung. Dabei ist es nicht zu vermeiden, dass der besondere Schutz der werdenden Mutter eine entsprechende Einschränkung der Interessen des Arbeitgebers mit sich bringt (BVerfG, Beschluss vom 13. November 1979 – 1 BvL 24/77, 19/78 und 38/79).
43 Auch etwaige wirtschaftliche Folgen für die Beklagte aufgrund von Ansprüchen der Klägerin aus dem MuSchG führen zu keinem anderen Ergebnis. Denn für die Beklagte als Kleinbetrieb sieht das Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (AAG) weitgehende Ausgleichszahlungen vor.
3.
44 Da die Klägerin mit der E-Mail vom 14. Dezember 2016 eine vermutete Schwangerschaft mitgeteilt hatte, lief die Frist zur Anrufung des Arbeitsgerichts nicht nach § 4 Satz 1 KSchG mit dem Tag des vom Arbeitsgericht angenommenen Zugangs der Kündigung. Nach § 4 Satz 4 KSchG war die Anrufung des Arbeitsgerichts am 23. Januar 2017 noch rechtzeitig.
45 Da die Kündigung einer Schwangeren ohne behördliche Zustimmung im Dezember 2016 nach § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG unzulässig war und die Beklagte keine solche behördliche Zustimmung besaß, war der Klage zu entsprechen und die Unwirksamkeit der Kündigung vom 19. Dezember 2016 festzustellen.
III.
46  Die Kostenentscheidung folgt § 64 Abs.6 ArbGG in Verbindung mit § 91 ZPO. Die Beklagte hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
47 Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.
Ãœber den Autor