Wer über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren will, muss eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen. Bei einem Unfall im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein schuldhaftes und unfallursächliches Fehlverhalten des vom Bordstein einfahrenden Fahrers. Rechts vor links gilt in diesem Fall nicht.
Volltext des Urteils des Landgerichts Lübeck vom 26.01.2024 – 17 O 158/22:
Tenor
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 5.213,70 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.08.2022 zu zahlen.
Die Beklagten werden weiter als Gesamtschuldner verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren der Rechtsanwaltskanzlei ….., ……..in Höhe von 627,13 € freizuhalten.
Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 5.234,30 € festgesetzt.
Tatbestand
Randnummer1
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall am 04. Juli 2022 in Bad Oldesloe.
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Der Kläger befuhr am 04. Juli 2022 mit seinem Fahrzeug mit amtlichem Kennzeichen ….. die Johannes-Ströh-Straße in Bad Oldesloe. In Fahrtrichtung links der Johannes-Ströh-Straße befinden sich Parkplätze quer zur Straße, in Fahrtrichtung rechts zur Johannes-Ströh-Straße befindet sich ein P+R-Parkplatzgelände, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob die Johannes-Ströh-Straße und die Parkplätze in Fahrtrichtung links ein einheitliches P+R-Parkplatzgelände mit den Parkplätzen in Fahrtrichtung rechts bilden, oder ob die vorbenannte Straße eine vom P+R-Gelände getrennte öffentliche Straße darstellt. Auf dem Parkplatzgelände in Fahrtrichtung rechts befinden sich zwischen den Parkplatzreihen Fahrgassen, die in Richtung der Johannes-Ströh-Straße führen. Die Fahrgassen weisen am Übergang zur Johannes-Ströh-Straße einen abgesenkten Bordstein auf. Von der Johannes-Ströh-Straße auf das Parkplatzgelände in Fahrtrichtung rechts blickend befindet sich ein Schild mit der Beschriftung „P+R“. Weiter ist die vorbenannte Straße durch ein in Fahrtrichtung links befindliches Schild als Einbahnstraße ausgewiesen (Verkehrszeichen Nr. 220). Zur Veranschaulichung der Unfallumgebung wird auf die Anlagen K1, K2 und K8 verwiesen.
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Die Beklagte zu Ziff. 2 fuhr mit ihrem bei der Beklagten zu Ziff. 1 haftpflichtversicherten PKW mit amtlichem Kennzeichen …..von dem Parkplatzgelände in Fahrtrichtung rechts des Klägers nach rechts abbiegend auf die Johannes-Ströh-Straße ein, woraufhin es zur Kollision zwischen dem Klägerfahrzeug und dem Beklagtenfahrzeug kam. Zur Veranschaulichung der Kollision wird auf die Anlagen K2 und K3 verwiesen.
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Ausweislich eines durch die Klägerseite eingeholten Gutachtens sind für die Reparatur des Klägerfahrzeuges Kosten in Höhe von 4.350,95 € netto erforderlich, wobei zwischen den Parteien Kosten in Höhe von 4.330,35 € netto unstreitig sind. Die Kosten für das Gutachten betragen 863,35 € brutto. Weiter macht die Klägerseite eine Auslagenpauschale in Höhe von 20 € geltend.
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Die Beklagte zu Ziff. 1 verweigerte gegenüber der Klägerseite mit Ablehnungsschreiben vom 12. Juli 2022, 03. August 2022 und 18. August 2022 die Regulierung des Schadens (vgl. Anlagenkonvolut K5). Dies begründete die Beklagte zu Ziff. 1 damit, dass sich der Unfall auf einem Parkplatzgelände abgespielt habe und die Beklagte zu Ziff. 2 von rechts kommend vorfahrtsberechtigt gewesen sei. Mit Mail vom 16. November 2022 (vgl. Anlage K7) forderte die Klägerseite die Beklagte zu Ziff. 1 letztmalig zur Regulierung bis zum 23.11.2022 auf. Die Beklagte zu Ziff. 1 lehnte die Regulierung weiterhin ab.
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Der Kläger macht weiter die Freihaltung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 627,13 € geltend. Dem legt die Klägerseite einen Gegenstandswert in Höhe von 5.234,30 €, eine 1,3 Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 VV RVG sowie eine Auslagenpauschale gem. Nr. 7002 VV RVG in Höhe von 20,00 € zzgl. Mehrwertsteuer zugrunde.
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Der Kläger meint, er sei gegenüber der Beklagten zu Ziff. 2 vorfahrtsberechtigt gewesen, da die Klägerin von einem Grundstück auf eine Straße eingefahren beziehungsweise über einen abgesenkten Bordstein auf die Fahrbahn eingefahren sei.
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Nachdem der Kläger mit seinem Antrag zu Ziff. 1 zunächst beantragt hat, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 5.234,30 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen, beantragt er nunmehr nach teilweiser Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
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1. an den Kläger 5.213,70 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. seit dem 04.08.2022 zu zahlen,
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2. den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren der Rechtsanwaltskanzlei ….., G. 44, … Hamburg in Höhe von 627,13 € freizuhalten.
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Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Sie meinen, die Beklagten zu Ziff. 2 sei von rechts kommend vorfahrtsberechtigt gewesen.
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Das Gericht hat im Rahmen der Güteverhandlung die Anlage K2, das erste Foto, Blatt 2 des Anlagenbandes Kläger sowie die Anlage K8, das erste Foto, Blatt 4 des Anlagenbandes Kläger in Augenschein genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet.
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I. Die teilweise Klagerücknahme in Höhe von 20,60 € im Termin vom 05.01.2024 mit Einwilligung der Beklagten ist gemäß § 269 Abs. 1 ZPO zulässig.
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II. Die Klage hat in der Sache Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Anspruch auf Zahlung von 5.213,70 € sowie Freihaltung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 627,13 €.
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Der Kläger hat gegen die Beklagte zu Ziff. 2 einen Anspruch auf Zahlung von 5.213,70 € sowie Freihaltung von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 627,13 € aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2 StVG.
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Gemäß § 7 Abs. 1 StVG hat der Halter eines Kraftfahrzeuges dem Verletzten denjenigen Schaden zu ersetzen, der daraus entstanden ist, dass beim Betrieb des Kraftfahrzeuges eine Sache beschädigt wurde. Das Fahrzeug des Klägers ist bei Betrieb des Kraftfahrzeuges der Beklagten zu Ziff. 2 beschädigt worden.
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Ein Ausschluss der Haftung der Beklagten zu Ziff. 2 beziehungsweise des Klägers gemäß § 17 Abs. 3 StVG ist nicht ersichtlich, da der Unfall nicht auf einem unabwendbaren Ereignis beruht. Gemäß § 17 Abs. 3 S. 2 StVG gilt ein Ereignis nur dann als unabwendbar, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeuges jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Geboten ist dabei eine besonders sorgfältige Reaktion. Es muss ein schadenstiftendes Ereignis vorliegen, das auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden kann (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 15). Im vorliegenden Fall hätte die Kollision der Fahrzeuge beiderseitig bei Beachtung der äußerst möglichen Sorgfalt abgewendet werden können.
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Die Beklagte zu Ziff. 2 haftet mit einer Quote von 100 %. Die Abwägung der Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Abs. 2 StVG führt zur alleinigen Haftung der Beklagtenseite.
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Gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG hängt die Haftung zwei an einer Schadensverursachung beteiligter Kraftfahrzeughalter untereinander im Verhältnis zueinander davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Für die Bewertung der Verursachungsbeiträge sind zunächst die wechselseitigen Verantwortungsbeiträge festzustellen. Anschließend müssen diese unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles gegeneinander abgewogen werden (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 28).
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Die Beklagte zu Ziff. 2 hat vorliegend einen Verstoß gegen § 10 StVO begangen. Danach hat sich wer aus einem Grundstück, aus einer Fußgängerzone, aus einem verkehrsberuhigten Bereich auf die Straße oder von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Bei einem Unfall im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein schuldhaftes und unfallursächliches Fehlverhalten des Einfahrenden (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 70).
Randnummer24
Im vorliegenden Fall spricht aufgrund der in den Anlagen K2 und K8 erkennbaren Beschilderung (u.a. Verkehrszeichen 220) viel dafür, dass es sich bei der Johannes-Ströh-Straße um eine von der P+R-Anlage getrennte öffentliche Straße handelt, und die Beklagte zu Ziff. 2 somit von einem Grundstück auf die Straße einfuhr. Im Ergebnis kann es jedoch dahinstehen, ob eine abgetrennte öffentliche Straße oder aber ein einheitliches P+R-Parkplatzgeländes vorliegen. Unterstellt, dass die vom Kläger befahrene Fahrbahn Teil eines einheitlichen P+R-Gelände wäre, wäre die Beklagte zu Ziff. 2 jedenfalls über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn eingefahren. Die Regelungen der StVO sind dabei auch in letzterem Fall grundsätzlich auf einem öffentlich zugänglichen Parkplatz anwendbar (vgl. auch BGH, Urteil vom 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 m.w.N.).
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Eine Erschütterung des ersten Anscheins ist vorliegend nicht gegeben. Dazu hätte die Beklagtenseite Umstände darlegen und beweisen müssen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ergibt (Zöller/Greger, 35. Aufl., ZPO Vor. § 284 Rn. 29). Entsprechende Umstände sind nicht ersichtlich.
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Ein entsprechender Verstoß gegen § 10 StVO wiegt in der Regel so schwer, dass dahinter die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Unfallgegners zurücktritt (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 16.04.2015 – 19 U 189/14, r+s 2016, 312 Rn. 16).
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Dem Kläger ist durch die Kollision ein gemäß § 249 BGB zu ersetzender Schaden in Gestalt von Reparaturkosten in Höhe von jedenfalls 4.330,35 € netto sowie Gutachterkosten in Höhe von 863,35 € entstanden. Weiter kann der Kläger eine Auslagenpauschale in Höhe von 20 € geltend machen (vgl. OLG Schleswig, Hinweisbeschluss vom 23.04.2021 – 7 U 10/21; BeckRS 2021, 36254, Rn. 10). Die Beklagte zu Ziff. 2 hat den Kläger ferner im Rahmen des zu ersetzenden Schadens von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten freizuhalten, deren Höhe sich aus dem RVG ergeben.
Randnummer28
Der Kläger hat gegen die Beklagte zu Ziff. 1 einen Anspruch auf Zahlung von 5.213,70 € sowie auf Freihaltung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 627,13 € aus § 115 Abs. 1 VVG in Verbindung mit §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2 StVG, da es sich bei der Beklagten zu Ziff. 1 um eine Haftpflichtversicherung zur Erfüllung einer nach § 1 PflVG bestehenden Versicherungspflicht der Beklagten zu Ziff. 2 handelt.
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Der Zinsanspruch folgt aus §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 Abs. 2 Ziff. 3 BGB.
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Die Beklagten haften gemäß § 115 Abs. 1 S. 4 VVG als Gesamtschuldner.
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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 2 Ziff. 1, 100 Abs. 4, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO.
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IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 und 2 ZPO.
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V. Die Streitwertfestsetzung folgt aus den §§ 39 Abs. 1, 40, 43 Abs. 1, 48 Abs. 1 GKG in Verbindung mit §§ 3 ff. ZPO.
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